Gott zwischen den Fronten
Text von Michael Gleich
Fotos von Frieder Blickle
Jerusalem, die gespaltene Stadt: Israelische Juden und palästinensische Muslime stehen sich als Todfeinde gegenüber. Zwischen ihnen harrt ein Häuflein deutscher Benediktiner aus, auf der Suche nach Gott – und praktischen Konfliktlösungen.
Bruder Thomas schickt ein paar ziemlich weltliche Flüche gen Himmel. Schon wieder ein Checkpoint! Er bremst vor dem einschüchternden Ensemble aus Stacheldrahtrollen, schussbereiten Maschinengewehren und quäkenden Funkgeräten. Israelische Soldaten mit Bleiwesten und hermetisch verschlossenen Gesichtern umringen den Wagen. Respekt zeigen sie weder vor seinem Alter noch vor dem schwarzen Mönchshabit. „Passport!“, ohne „please“. Noch ruppiger gehen sie mit den beiden Palästinensern im Wagen um: „Ihr dürft nicht durch. Oder habt ihr eine Spezialgenehmigung?“ Daoud fragt: „Wieso braucht man für diesen Weg eine Erlaubnis?“ – „Weil das nicht euer Land ist. Maybe one day. Aber soweit sind wir noch lange nicht“, hämt der junge Soldat, „this land is still mine.“ Nur weil Bruder Thomas flugs gegen das achte Gebot verstößt und ein unverdächtiges Reiseziel erfindet, dürfen alle passieren. Der Allmächtige wird ein Auge zudrücken.
Der vierte Mann im Wagen, Abt Benedikt Lindemann, bleibt auffällig ruhig. Er strahlt den israelischen Soldaten sogar an: „Shalom“, Friede. Für die Mitfahrer ist seine Freundlichkeit fast eine Provokation: Da erklärt sich ein 19jähriger mittels Maschinengewehr zum Besitzer Palästinas, und der Abt lächelt nur – wie soll man da folgen?
Israel, die hysterische Gesellschaft
„Spürt ihr denn nicht, wie der unter Stress steht, wie verunsichert der ist? Das ist ein ganz armes Würstchen.“ Der Abt wirbt für seine psychiatrische Sicht der Lage: Israel, die hysterische Gesellschaft. Ein Land ist permanent außer sich. Hin- und hergerissen zwischen Verfolgungswahn und der Illusion, mit einer gigantischen Militärmaschinerie Sicherheit erzwingen zu können. Mit all den Zäunen, Checkpoints, Betonmauern, Absperrungen. Sie machen Grenz-Erfahrungen für die Mönche zum Alltag.
„Suche den Frieden und jage ihm nach“, hatte der heilige Benedikt seinen Nachfolgern ins Regelbuch geschrieben. In Israel suchen und jagen seine Jünger unter Härtebedingungen. Das Kloster Hagia Maria Sion, in dem Abt Benedikt und seine 16 Brüder zu Gottes Lob und Preis leben, steht direkt an der Jerusalemer Stadtmauer, ein Häuflein deutscher Christen auf der Demarkationslinie zwischen den Juden im Westen und den Muslimen im Osten. Hier prallen Palästina und Israel aufeinander wie tektonische Platten, reiben sich, bauen Spannungen auf, die sich immer wieder in gewaltigen Beben entladen.
Seit Oktober 2000 kracht es erneut. Als Reaktion auf eine kalkulierte Provokation des israelischen Premiers Ariel Sharon, der mit großem Gefolge zum Heiligtum der Muslime, zur Al-Aqsa Moschee marschierte, brach die zweite Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser, brutal gekontert vom israelischen Militär. Clash of Civilizations, und mittendrin die Benediktiner. Dabei wollen sie nichts anderes als beten und arbeiten, „ora et labora“ zur Ehre Gottes und für eigene Seelenruhe, seit hundert Jahren schon harren sie auf dem Berg Sion aus. Aber wie finden sie inneren Frieden, während draußen Selbstmordattentäter und Armeebulldozer Angst und Schrecken verbreiten? Wie geht das, Kontemplation trotz Krieg? Fromme Versenkung in Zeiten der Eskalation?
Der Zölibat, sechsmal am Tag in die Kirche rennen, komische Kutten
„Gerade jetzt“, sagt der Abt bestimmt, „Mönchtum war immer schon ein gelebter Gegenentwurf. Der Zölibat, sechsmal am Tag in die Kirche rennen, komische Kutten. Und in Krisenzeiten wie diesen ist ein Leben im Gebet erst recht eine wertvolle Alternative.“ Vor sieben Jahren haben die Mönche ihn gewählt, im Alter von 37 und damit jünger als die meisten von ihnen. Seinem Charisma sind sie erlegen. Wegen der imponierend hohen Gestalt? Der hypnotisierenden Gestik seiner Hände? Der strahlenden Präsenz, mit der er sich jedem voll und ganz zuwendet, mit der er spricht? Sie können sein Charisma spüren, erklären können sie es nicht.
Sechs mal am Tag folgen sie ihm zum Chorgebet in die prächtigen Basilika aus sandfarbenem Naturstein. Die Vigil am frühen Morgen, später Laudes, Eucharistiefeier, Mittagshore, Vesper und am späten Abend die Komplet. „Beten ist unser Weg, spirituelle Kraft zu gewinnen“, sagt der Abt. Dabei belassen sie es aber nicht. Geistlich derart gestärkt, engagieren sich die Benediktiner auch ganz irdisch für Lösungen in dem blutigen Konflikt, den ihre Nachbarn zur Rechten und zur Linken miteinander austragen. Sie laden jeden Sommer behinderte Kinder ein, auf einem Klostergelände am See Genezareth ihre Ferien zu verbringen; dort baden sie in salzhaltigen Thermalquellen und Pools, und zwar – dieser Tage eine kleine Sensation – Israelis und Palästinenser einträchtig gemischt. Das warme Wasser bricht den Streit.
Regelmäßig sammeln die Brüder Lebensmittel, Kleidung und Medikamente und verteilen sie in den besetzten Gebieten, in Dörfern, die durch die ständigen Grenzschließungen von der Versorgung mit dem Nötigsten abgeschnitten werden. Und sie unterstützen friedensbereite Aktivisten auf beiden Seiten nicht nur mit geistlichem Zuspruch, sondern auch mit Bargeld.
Kein guter Tag für zwei Palästinenser
Heute halten sie ihre schützende Hand über den Weinberg von Daoud und George Nassar. Es ist einer dieser Tage, an denen überall im Land die Nerven blank liegen. In der Nacht haben palästinensische Extremisten im Kibbuz Metzer ein Blutbad angerichtet; Frauen und Kinder starben im Schlaf. Seit dem Morgen beschießen israelische Hubschrauber Ziele auf Gaza Stadt. Kein guter Tag für zwei Palästinenser, um von Jerusalem nach Bethlehem zu fahren. Was normalerweise nur ein längerer Spaziergang wäre, kostet heute Stunden. Die Soldaten an den Kontrollposten lassen sich viel Zeit, für Bruder Thomas am Steuer ein Zeichen, dass es mehr um Schikane als um Sicherheit geht. Seine gemurmelten Verwünschungen sind saarländisch eingefärbt und gesalzen.
Endlich liegt das Areal der Gebrüder Nassar vor ihnen. 40 Hektar, bestanden mit Weinstöcken und Feigen-, Mandel- und Olivenbäumen. Mit Hilfe der Benediktiner soll hier ein Camp entstehen, in dem sich Jugendliche aus Deutschland und Österreich mit jungen Palästinensern treffen und deren Lebensumstände kennen lernen können. Schatten und Wasser sind vorhanden, erste Unterkünfte in Bau. Eines Tages sitzen vielleicht auch junge Israelis und Araber gemeinsam um´s Lagerfeuer – Inshallah, so Gott will.
Auf den Hügeln rings umher fünf wehrhafte Trutzburgen der Israelis
Mit dem Camp erfinden die Nassars nicht nur eine neue Form, ihr Land Früchte tragen zu lassen. Es ist auch ein Akt der Selbstverteidigung. Ihr Weinberg wird förmlich umzingelt von jüdischen Siedlern. Auf den Hügeln rings umher haben Israelis fünf Dörfer errichtet, wehrhafte und komfortable Trutzburgen, deren Bewohner schwer bewaffnet sind. Die Palästinenser fürchten den Landhunger der illegalen Siedler. Daoud zeigt dem Abt die Spuren ihres jüngsten Versuchs, sich das Eigentum der Nassars einzuverleiben: Durch die schwere Erde zieht sich eine planierte Schneise. „Die Methode ist immer die gleiche: Wenn keiner gegen den Weg protestiert, stehen ruckzuck links und rechts die Wohncontainer, ein Wasserturm, ein hoher Zaun, und dann bist du dein Land endgültig los.“ Das Vorrücken der Siedler, die sich – gegen geltendes Völkerrecht – palästinensische Grundstücke aneignen, erinnert an die Strategie von Ameisen in den Tropen: Kaum lässt man ein paar Krümel Essbares achtlos liegen, zieht sich eine wimmelnde Straße quer durch die Küche, und man wird sie nicht mehr los. Bisher konnte die feindliche Übernahme des Nassar-Weinbergs verhindert werden, nicht zuletzt, weil auch Ausländer ein wachsames Auge darauf richten. Was können die Benediktiner tun? „Da hilft kein Beten, sondern ein guter Rechtsanwalt“, sagt der Abt. Das Kloster übernimmt die Kosten.
Abt Benedikt zieht sich die Kapuze seines Habits über den Kopf. Mit wehender Tunika stemmt er sich gegen den auffrischenden Novemberwind. Wo früher eine Asphaltstraße zum Weinberg führte, muss er jetzt zu Fuß Erdwälle und Gräben überwinden. Die Israelis haben die Straße aufgerissen, sie wollen nicht, dass so nahe an der Siedlung Autos fahren – „wegen der Sicherheit“, mehr Begründung wäre Wortverschwendung. Überkommt den Abt da nicht manchmal der Zorn des Gerechten? „Sicher flackert der manchmal auf. Aber grundsätzlich hüte ich mich davor, einseitig Partei zu ergreifen. Dieser Konflikt ist unglaublich verworren. Mitgefühl dagegen ist eine einfache Sache: Es gilt immer den Opfern, und die gibt es auf beiden Seiten.“
Verbunden durch ein untrennbares Band von Bedrohungsgefühlen
Er sieht Israelis und Palästinenser auf fatale Weise miteinander verstrickt, „verbunden durch ein untrennbares Band von Bedrohungsgefühlen“. Die Angst geht um. Diskobesucher fürchten das nächste Selbstmordkommando; palästinensische Flüchtlinge fürchten israelische Helikopter und Heckenschützen; jüdische Kinder alpträumen vom Holocaust, dessen Schrecken ihnen auch deshalb lebendig gehalten werden, um den jetzigen Krieg zum „Kampf gegen die zweite Vernichtung“ stilisieren zu können. Alle fühlen sich als Opfer, keiner als Täter.
„So viele traumatisierte Seelen“, sagt der Abt, „wir versuchen, dort zu sein, wo es Menschen schlecht geht.“
Er verhehlt nicht, dass er momentan die größte Not bei den Palästinensern sieht. „Die wurden erst aus ihren Dörfern und Städten vertrieben, und jetzt nimmt man ihnen die Würde. Die Demütigung ist dauerhaft geworden.“ Wie könne man von einem Volk friedliches Verhalten erwarten, „das so viel verloren und nichts zu gewinnen hat“? Frieden sei nun mal keine abstrakte Idee, sondern auch Kalkül. Nur wenn sich beide Seiten davon ein besseres Leben erhofften, brächen sie mit der Gewalt.
Chancen, Perspektiven, Zukunft. Für die meisten Palästinenser klingen solche Worte merkwürdig fremd. Genauso wie „Frieden“. Die Benediktiner beten, ora, und sie helfen, labora. In Bethlehem gibt es Al-Nadwa, ein Zentrum, das arabische Handwerker ausbildet, Journalisten schult, Künstler beim Verkauf ihrer Werke berät. Die Abtei steuert Rat, Kontakte und Zuschüsse bei. Mitri Raheb, ein lutherischer Pfarrer, der das Zentrum leitet, versucht die grassierende Auswanderungswelle in Palästina zu stoppen: „Unsere besten Köpfe denken im Moment nur noch: Wie kann ich schnellstens abhauen? Wir müssen beweisen, dass dieses Land ihnen Lohn und Brot bieten kann, nur so können wir sie halten.“ Immerhin wurde Al-Nadwa bereits zum zweitgrößten Arbeitgeber der Region. Wer Geld verdient, so die Hoffnung, schweißt nicht mit Steinen. Oder mit Schlimmerem.
Nur ein kleines Rädchen in Richtung Frieden
Die Benediktiner wissen, dass sie nur ein kleines Rädchen in Richtung Frieden drehen können. „Aber gerade weil wir die kleinste Glaubensgemeinschaft sind“, sagt Abt Benedikt, „sind wir im allgemeinen Machtpoker unverdächtig. Sowohl Israelis als auch Palästinenser akzeptieren uns als neutrale Gesprächspartner.“ Er schmunzelt: „Ist das nicht schön: etwas zu bewirken, gerade weil man keine Macht hat?“
Die Abtei hat eine Stiftung gegründet, die alle zwei Jahre den Mount Zion Award vergibt. Verdiente Friedensaktivisten beider Seiten werden ausgezeichnet und gefördert. Unter den Preisträgern waren die Professorin Sumaya Farhat-Naser, die ein international renommiertes Zentrum für arabische Frauen leitete, und Yitzhak Frankenthal, der, nachdem sein Sohn von Hamas-Kämpfern erschossen worden war, eine landesweite Vereinigung trauernder Eltern gründete, jüdische und arabische, die gemeinsam mit spektakulären Aktionen für ein Ende des Kriegs demonstrieren.
„Wie lange seid ihr Benediktiner schon in Jerusalem?“ hat Frankenthal den Abt einmal gefragt.
„Fast hundert Jahre.“
„Und was macht ihr so den ganzen Tag?“
„Ora et labora, beten und arbeiten nach der Regel.“
„Und – was hat es geholfen?“
Jerusalem – ein guter Ort, um spirituelle Brücken zu bauen
Der Abt hatte keine Antwort. Eigentlich eine einfache Frage. Und doch die schwierigste überhaupt: Warum stoppt Gott nicht das Morden, warum erhört er nicht die Gebete? Doch für Mönche, sagt er, gelten andere Gesetze als die von Ergebnis und Effizienz. Die Wirkung von Gebeten lässt sich nicht messen. Für den Abt sind sie aber genauso wichtig wie die sichtbaren Initiativen des Klosters. „Jerusalem gilt drei Weltreligionen als geistliches Zentrum. Hier läuten Glocken, singt der Muezzin, wird an jüdischen Festtagen das Schofar geblasen. Das ist ein guter Ort, um spirituelle Brücken zu bauen.“ Regelmäßig trifft er sich mit einem jüdischen Gelehrten und einem Mullah. Die drei hocken sich auf den Boden und meditieren gemeinsam. Jeder spricht in seiner Sprache Psalmen, Suren und Verse. Huldigt dem einen Gott, den die Menschen ja nur unterschiedlich bezeichnen. Solche Offenheit für andere Religionen, in der katholischen Kirche immer noch eine Ausnahme, sieht der Abt als geistliche Antwort auf die Notlage des „unheiligen Landes“.
Diese Souveränität war nicht geburtgegeben. Er hat sie sich hart erarbeitet. Ein langer Prozess der Selbsterfahrung, in dessen Verlauf sich ein gewisser Gerhard Lindemann aus dem sauerländischen Welschen Ennest in den Abt von Jerusalem verwandelte. Als Abiturient richtet er sich in den ortsüblichen Plänen für ein kleines Leben ein – Wehrdienst leisten, Lehrer werden, Frau heiraten, Haus erben. Doch schon an der ersten Station bricht die Biographie. Beim Schießen auf Attrappen mit menschlichen Umrissen gerät er förmlich in einen Rausch: „Bumm, getroffen, nochmal, mitten rein. Die Knallerei hat mir richtig Spaß gemacht.“ Erst nach der Übung dämmert ihm, „es geht nicht um Scheiben, es geht um Menschen. Die bringen dir das Töten bei.“ Den zweiten Schießbefehl beschließt er zu verweigern.
Balance zwischen Klausur und Weltzugewandheit
Er muss vor einer Prüfungskammer erscheinen. Zur Vorbereitung liest er in der Bibel. „Zum ersten Mal ahnte ich, dass es in Gott einen tieferen Frieden als den weltlichen gibt.“ Nachdem er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurde, „wollte ich richtig beten lernen, wollte mich ganz und gar in Meditation versenken können“. Ein Benediktiner-Kloster schien ihm dafür der richtige Ort. Der ruhige Rhythmus von Beten und Arbeiten, die Balance zwischen Klausur und Weltzugewandheit. Sein Abt ermöglicht ihm, in Barcelona Tai Chi zu üben, er beschäftigt sich mit indischen Meditationstechniken. Eine Zeitlang bringt er ziemlich viele Leute um – in seinen Träumen. „Das waren regelrechte Massaker, mit Leichenteilen überall.“ Unter Anleitung betreibt er neun Jahre lang Traumdeutung. Kindheitsängste begegnen ihm wieder, elterliche Entmutigung: Das schaffst du nie!
Mit den Komplexen, die er ablegt, strafft sich seine Gestalt, er wirkt größer, so als sei er, lange nach der Pubertät, um einen Kopf gewachsen. 1995 wird er von den Brüdern der Hagia Maria Sion zum Abt gewählt und damit einer der ganz jungen Würdenträger in Jerusalem.
Seine eigentliche Karriere besteht in der Klarheit, die er in langen Perioden der Meditation gewonnen. Er strahlt Kraft und Sensibilität gleichzeitig aus, vereinigt Witz und Würde widerspruchsfrei. Mal ist er der Diener der anderen, der im Refektorium die Schüsseln und Teller aufträgt, mal ihr Oberhaupt, das mit dem Papst parliert. Er ist sich einig geworden mit seinem Gott und der Welt, und vor allem mit sich selbst.
Dramatisch gewachsene Kluft zwischen Reichen und Armen
Die psycho-therapeutischen Erfahrungen prägen auch seine Sicht des israelisch-palästinensischen Konflikts. Er analysiert ihn wie ein Seelenarzt analysiert: „Das Tragische ist, dass da zwei Migrantenvölker aufeinander treffen, zwei völlig zerrissene Gesellschaften, die keinen inneren Zusammenhalt besitzen.“ In Israel etwa sei die Kluft zwischen Reichen und Armen in den vergangenen Jahren dramatisch gewachsen, Einwanderer aus dem Westen grenzten sich von Neubürgern aus Russland oder Äthiopien ab, orthodoxe und weltliche Juden lägen in Dauerfehde. Kein Wunder also, „dass die Israelis immer neurotischer reagieren“.
Zur Illustration erzählt der Abt die Geschichte vom gutmütigen Bruder und der Handgranate. Leider wahr, leider nicht lustig. Einer der Brüder spazierte vor kurzem zur Klagemauer, als ihn ein uniformierter Offizier ansprach. Ob er Zeit habe und ihm einen Gefallen tun könne? Der Mönch willigte ein, er war noch nicht lange im Land, er hilft gern. Der Offizier sagte, er wolle die Aufmerksamkeit seiner Kollegen testen, mal sehen, ob sie den Gegenstand aufspürten, den er in der Kapuze dessen Pullovers, stylistisch irgendwo zwischen Rapper und Mönch, verstecken wollte. An der Klagemauer herrscht permanent höchste Sicherheitsstufe. Als der Benediktiner die Sperren passierte, fing der Metalldetektor an zu piepsen. Sofort umringte ihn ein Kordon Soldaten, die Maschinengewehre im Anschlag. In letzter Sekunde trat der Offizier hinzu, klärte den Test auf und zog aus der Kapuze – eine Handgranate. Erst jetzt merkte der geistliche Mann, in welcher Gefahr er geschwebt hatte. Er hätte leicht ‚in Notwehr‘ erschossen werden können. Für pathologisch hält der Abt „eine Gesellschaft, die bereit ist, für ein angeblich höheres Gut wie Sicherheit Menschenopfer zu bringen.“
Allgegenwärtig lastet die Angst über dem Land. Sie belastet jedes Gespräch zwischen Israelis und Palästinensern. Der Abt hat lange gegrübelt, was die Benediktiner beitragen können; im Mittelalter kopierten sie kunstvoll dicke Bücher und trugen so Wissen weiter – was ist heute die kulturelle Herausforderung?
Gespräche als Gegenmittel in einer bleiernen Zeit
Ausgerechnet in den Hallen des „unmöglichen Möbelhauses“ aus Schweden, in einer Filiale am Stadtrand von Jerusalem, hatte der Abt ein Schlüsselerlebnis. Beim Einkauf von Kiefernregalen fiel ihm auf, „wie anders sich die Leute da drinnen bewegen, wenn sie die Eingangskontrollen hinter sich gelassen haben. Locker und gelöst. Irgendwie mit mehr Lebenslust.“ Ihm dämmerte, wie sehr die Menschen angstfreie Räume vermissen. Und dass die Abtei solch ein Raum sein kann: Soldaten müssen draußen bleiben, Polizei und Geheimdienst verschonen die deutschen Mönche. Dicke Mauern schützen die Gottsucher.
Der Abt und die Brüder entwickelten das Konzept einer Akademie, die Palästinenser und Israelis zu Begegnungen ins Kloster einlädt. Gespräche als Gegenmittel in einer bleiernen Zeit, in der jeder, der mit Vertretern der anderen Seite spricht, Gefahr läuft, als Verräter denunziert zu werden. Israelische und palästinensische Friedensaktivisten müssen nach Zypern oder Italien ausweichen, um ungestört miteinander zu reden. „Gespräche sind sicher nicht alles“, sagt der Abt, „aber ohne sie geht gar nichts voran.“ Der Bauplatz für die Friedensakademie ist vorhanden, die Sponsorensuche hat begonnen. Und benediktinische Gastfreundschaft, die seit Jahrhunderten gepflegte Tugend, bekommt im Nahen Osten eine neue Bedeutung.
Das Angebot des sicheren Orts ist hochwillkommen. Der Abt trifft sich mit dem 25jährigen Palästinenser-Funktionär Rami, und der 22jährigen Karen, die den Dienst in der israelischen Armee verweigert hat. Die beiden wollen in einem ersten Gesprächsseminar Aktivisten der Gruppe „Palestine Vision“ und junge Israelis zusammen bringen. Der Abt führt die beiden durchs Kloster. Sie inspizieren Klassenräume, Gästeküche und Schlafzimmer, prüfend, mit einer Haltung irgendwo zwischen Seminarleiter und Sicherheitsdienst. Die strategische Lage der Abtei zwischen West- und Ost-Jerusalem beeindruckt sie besonders: „Da kommen wir unbeobachtet rein und wieder raus“, sagt Rami. Karen nickt dazu; manchmal müssen Friedensaktivisten militärisch denken.
Ein Treffen. Hinter freundlichen Mauern. An einem sicheren Ort. Bei verlässlichen Gastgebern. Stabilitas loci, die Regel der Standorttreue, bindet die Benediktiner an den Berg Sion. „Wir werden auch in hundert Jahren noch hier sein,“ sagt der Abt. Er kann es nicht beweisen. Er weiß es einfach.
Update Frühjahr 2009
Konflikt:
Der Nahost-Konflikt deeskalierte, als Israel seine Truppen aus Libanon abzog. Gleichzeitig wurde die Lage komplizierter, weil sich auf palästinensischer Seite die Gruppen Fatah und Hamas bekämpfen. Immer wieder Selbstmordattentate von palästinensischen Gruppen und Raketenangriffe der israelischen Armee.
Projekt:
Die Benediktiner der Dormitio-Abtei, die direkt an der (arabisch dominierten) Altstadt von Jerusalem liegt, kämpfen um Stabilität. Die rund 20 Brüder versuchen, in Kriegszeiten ihr Kloster wirtschaftlich über die Runden zu bringen, was angesichts nachlassender Pilgerzahlen schwierig ist. Sie betreiben die Begegnungsstätte für israelische und arabische behinderte Kinder und Jugendliche weiter. Im Oktober dieses Jahr vergeben sie den nächsten Mount Zion Award, einen Friedenspreis für jeweils einen palästinensischen und israelischen Aktivisten. Das Projekt einer Friedensakademie ruht wegen Geldmangel. Sie soll als Schwerpunkt den „innerchristlichen Dialog zwischen den verschiedenen im Heiligen Land vertretenen Konfessionen und Kirchen sowie das interreligiöse Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen“ haben. Über mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit kann sich die kleine Gemeinschaft nicht beklagen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Januar 2008 Israel besuchte, machte sie auch eine Stippvisite im Benediktiner Kloster. Wie es hieß, war ihr die Einschätzung der politischen Lage durch Abt Benedikt Lindemann wichtig.