Peacemaker – Neue Lösungen aus der Zivilgesellschaft
Von Tilman Wörtz
Utopien können simpel daherkommen. In Medellín, Kolumbiens zweitgrößter Stadt, sagte mir kürzlich ein junger Mann: „Ich stelle mir vor, dass in zwanzig Jahren Menschen aus anderen Vierteln Medellíns in die Comuna 13 ziehen wollen – und nicht immer nur umgekehrt.“ Der Wunsch mag in den Ohren eines Westeuropäers belanglos klingen. Für diesen jungen Mann wäre seine Erfüllung ein Phänomen. Er lebt in einem berüchtigten Armenviertel von Medellín, der Comuna 13, durch das die Straße zum Pazifikhafen Uraba führt. Von dort gelangen Drogen in den Rest der Welt und Waffen zurück nach Medellín.
In der Comuna 13 kämpfen Drogenbanden um die Kontrolle dieser Straße und die Kontrolle der Einwohner. Es gibt täglich Feuergefechte und Tote. Der Drogenkrieg beeinflusst alle anderen Aspekte des Lebens: Wer einen Job in Medellín sucht, bekommt mit der falschen Adresse auf dem Bewerbungsschreiben keinen; Mütter lassen ihre Kinder nicht auf der Straße spielen; wer zu laut Trompete übt, läuft Gefahr, dass sein Nachbar einen befreundeten Schergen der Drogenmafia vorbeischickt; diese Einschränkung macht im Normalfall aber nichts aus, denn eine Trompete kann sich in der Comuna 13 sowieso kaum jemand leisten. Junge Menschen, die in der Comuna 13 Musik machen, rappen.
Auch der junge Mann, der sich wünscht, Menschen mögen freiwillig in die Comuna 13 ziehen, ist ein Rapper. Er heißt Jeison Castaño Hernandez, ist 24 Jahre alt und steht einer Initiative von mittlerweile über achtzig Hip-Hoppern vor, die ihr Viertel durch ihre Kunst transformieren wollen, der „Elite de Hip-Hop“. Kunst gegen Gewalt, das klingt naiv. Die Arbeit der Elite de Hip Hop basiert aber auf einer komplexen Analyse der Verhältnisse der Comuna 13, aus der die Jugendlichen ihre Schlüsse gezogen haben und tätig wurden: Sie haben eine Schule für Hip Hop gegründet, unterrichten mittlerweile Hunderten von Schülern Sprechgesang, Breakdance und Graffiti. Aus Taugenichtsen wurden respektierte Künstler und Lehrer, die selbst von den Killern der Drogenmafia verehrt werden.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich nur die Killer Respekt verdienen können, durch Waffen und Geld. Heute sehen Jugendliche in der Comuna 13, dass es Alternativen zu ihrem bisherigen Leben gibt, dass sie etwas tun können. Aus den Versammlungen und Ausschüssen der Elite de Hip Hop sind im Lauf von acht Jahren Führungsfiguren hervorgegangen. Sie organisieren Musikfestivals, entwerfen Werbekampagnen, verwalten Geld, verhandeln mit der Stadtverwaltung und Unternehmen, die sie als Sponsoren für die Hip Hop-Schule gewinnen. Sie träumen davon, dass im Rest Medellíns und Kolumbiens erkannt wird, welches Potenzial in ihnen steckt; dass dadurch auch andere Jugendliche eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen, dass dadurch wiederum noch mehr Vorbilder für andere Jugendliche entstehen; dass dadurch der Drogenmafia der Nachwuchs entzogen wird, dass dadurch Drogenkonsum und die Gewalt sinken, dass dadurch Friede einzieht. Dass dadurch in zwanzig Jahren Menschen in die Comuna 13 ziehen, weil es dort lebenswert geworden ist. So simpel, wie der Wunsch von Jeison Castaño klingen mag, ich denke, er verdient den Namen Utopie. Es ist die Vorstellung von einer radikal anderen Welt, als der Welt, in der er lebt.
Die Menschen, denen sich das Projekt Peace Counts widmet, haben solche Friedensutopien entwickelt und arbeiten an ihrer Verwirklichung. Wir haben sie „Friedensmacher“ genannt. Die Utopie vom Frieden dient den Friedensmachern als Signalleuchte in der Ferne, um durch die täglichen Rückfälle und Probleme nicht vom Weg abzukommen. Seit 2003 reisen Reporter und Fotografen im Auftrag von Peace Counts in Krisenregionen und spüren solche Friedensmacher auf, recherchieren ihre Geschichte und veröffentlichen sie in renommierten Medien.1 Es geht immer um Antworten auf die Frage: Wie macht man eigentlich Frieden? Die Ursachen für die Krisen sind so vielfältig wie die Lösungsvorschläge der Friedensmacher. Peace Counts interessiert sich speziell für solche aus der Zivilgesellschaft: für Ärzte, Lehrer, NGO-Mitarbeiter, Mediatoren, Pfarrer, ehemalige Kämpfer mit einem interessanten Projekt.
Sie spielen in der Welt nach dem Kalten Krieg eine immer wichtigere Rolle. Kriege zwischen Staaten sind die Ausnahme geworden. 1950 gab es sechs bis sieben pro Jahr davon, heute ist es zum Glück nur noch einer.2 Die überwiegende Zahl von Kriegen sind Bürgerkriege. Damit sind natürlich auch die Akteure, die über Krieg und Frieden entscheiden, andere geworden.
Es gibt verschiedene Versuche, diese Veränderungen zu systematisieren. Ein prominenter stammt von dem Imperiumsforscher Herfried Münkler.3 Er sieht einen Bruch in der Kriegführung, wie sie Jahrhunderte lang vorherrschte und den sogenannten „neuen Kriegen“. Mit dem Westfälischen Friede von 1648 hatten sich Rituale der Kriegführung etabliert. Ein Krieg begann mit einer Kriegserklärung, Kriegsrecht sollte die schlimmsten Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verhindern und die Begegnung der Truppen auf das Schlachtfeld begrenzen. Ein Friedensvertrag beendete den Waffengang, unterzeichnet von der Führung der jeweiligen Staaten und Armeen. Mit vielen Ausnahmen von der Regel galt dieses Grundschema bis zur Beendigung des Kalten Krieges. Die neuen Kriege von heute funktionieren laut Münkler anders. Er spricht von einer „Privatisierung“ des Krieges: Neben regulären Armeen treten verstärkt parastaatliche Verbände, Rebellen, Warlords und Söldner auf den Plan. Die Grenze zwischen Soldat und Zivilist ist immer schwerer zu erkennen, entsprechend steigt die Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung. In den Kriegen, die bis Anfang des 20. Jahrhundert geführt wurden, zählten 90 Prozent der Verwundeten und Gefallenen zu den Kombattanten. In den neuen Kriegen dreht sich diese Zahl ins Gegenteil: Bei nur noch 20 Prozent der Opfer handelt es sich um Soldaten, die übrigen 80 Prozent sind Zivilisten.4 Die neuen Kriege werden mit leichten Waffen geführt und sind dadurch billiger geworden: Kämpfer mit MGs auf Pick-ups prägen unser Bild der Bürgerkriege in Afrika und Zentralasien. Sie lassen sich leicht beginnen und nur schwer wieder beenden.
Dem Staat entgleitet sein Gewaltmonopol, die neuen Kriege sind nicht mehr Begleiterscheinung der Staatenbildung,5 sondern Symptome seines Zerfalls, an dessen Ende ein failed state wie in Somalia oder Afghanistan stehen kann. Diese „Privatisierung des Krieges“ mache das Eingreifen neuer Akteure des Friedens erforderlich: Nicht mehr nur Könige, Präsidenten und Generale können Frieden herbeiführen, nein, immer stärker ist die Zivilgesellschaft gefordert. Und sie reagiert.
Die Friedensmacher
In jeder Krisenregion gibt es eine Vielzahl von Initiativen und Menschen aus der Zivilgesellschaft, die an einer friedlicheren Zukunft ihres Landes arbeiten. Die Reportagen von Peace Counts dokumentieren diese Friedensmacher. Sie haben Methoden entwickelt und in der Praxis getestet, auf die jeweiligen Konfliktursachen und -phasen angepasst. Eine kleine Auswahl macht das breite Spektrum ihrer Bemühungen und Erfolge deutlich.
Mediation und Suche nach Identität: Viele Palästinenser und jüdischen Israelis haben noch nie mit der jeweils anderen Seite gesprochen. In erzwungener oder selbst auferlegter Isolation pflegen sie ihr Feind- und Selbstbild. Wo könnte ein Treffen stattfinden? Wo fühlen sich beide Seiten sicher und verstanden? Die School for Peace, auf halbem Weg zwischen Tel Aviv und Jerusalem gelegen, organisiert seit bereits über zwanzig Jahren solche Treffen. Drei Tage lang sperren sich die Gruppen in einen Raum und diskutieren.
Gegründet hat die School for Peace die ehemalige Soldatin Nava Sonnenschein. Sie hatte im Jom-Kippur-Krieg von 1973 gekämpft, viele Freunde verloren und dann nach neuen Wegen für ihr Land gesucht. Im jahrelangen Praxistest hat sie herausgefunden, dass hart geführte Diskussionen stärker zur Revision von Vorurteilen anregen, als die Suche nach Harmonie. Die Gruppen klammern deshalb politische Themen bewusst nicht aus. Die Methode der School for Peace hat Schule in Israel gemacht. Viele Mediatoren und Friedensaktivisten, die heute in den unterschiedlichsten Organisationen in ganz Israel arbeiten, haben sie erlernt.
Sicherheit: Immer wieder kommt es im Norden Nigerias zu Massakern zwischen Christen und Muslimen. In Jos vermitteln der Imam Muhammad Ashafa und der protestantische Pastor James Wuye zwischen beiden Seiten. Sie haben ein Frühwarnsystem aufgebaut: Die Teams bestehen aus einer gleich großen Zahl von Christen und Muslimen, die sich bei den geringsten Anzeichen von interreligiöser Gewalt gegenseitig informieren. Beide haben einst selbst Milizen befehligt und selbst unter dem Konflikt gelitten: James wurde die rechte Hand im Kampf mit einer Machete abgehackt; Ashafa verlor seinen spirituellen Vater, einen Sufi-Weisen, den christliche Milizionäre in einen Brunnen geworfen und Steine auf ihn geschmissen hatten, bis er erstickte. Der Schmerz des Verlusts bindet beide Männer aneinander. Doch James und Ashafa ließen in einem langen Prozess der Versöhnung den Weg des Hasses hinter sich und gründeten das Interfaith Mediation Centre (IMC).
Bildung: Je heißer der Konflikt, desto schwieriger die Vermittlung zwischen beiden Seiten und desto diskreter müssen Friedensmacher auftreten. Der deutsche Mathematiker Peter Schwittek organisiert seit zwanzig Jahren Schulunterricht für Mädchen in Moscheen in Kabul und Umgebung. 5.500 Schüler sind es derzeit. Er ermöglicht seinen Schützlingen ein Mindestmaß an Bildung und Teilhabe am Leben. Sie werden gestärkt gegen die Manipulationsversuche der Taliban, deren wichtigster Verbündeter die Unwissenheit ist. Die Taliban haben Unterricht für Mädchen natürlich streng verboten, in Moscheen erst recht. Peter Schwittek aber findet unter gemäßigten Mullahs willige Verbündete. Sie wissen, dass ihr Land nur eine Zukunft hat, wenn die Bildungslücke zwischen dem modernen und dem traditionellen Afghanistan geschlossen werden kann.
Versöhnung: Die ruandische Gesellschaft ist nach dem Völkermord immer noch tief gespalten. Bis zu einer Million Menschen wurden im Jahr 1994 umgebracht. Dieudonné Munyankiko und seine Association Modeste et Innocent (AMI) unterstützt die damaligen Täter und die Überlebenden auf dem schwierigen Weg zur Versöhnung. Sie sollen in drei Schritten zueinander finden: Zuerst schreiben sie getrennt ihre Hoffnungen und Ängste auf. Dann tauschen sie das Geschriebene aus und lernen die Sicht der anderen Seite kennen. Am Schluss stehen die direkte Aussprache und der Entwurf gemeinsamer Regeln für das Zusammenleben. AMI veranstaltet außerdem Gewaltpräventionskurse für Polizisten und schult Freiwillige in der Betreuung von Traumatisierten. Ihre Maßnahmen sollen dazu beitragen, alte Wunden zu heilen und neue zu vermeiden. Es ist der Versuch des Ausgleichs zwischen Gerechtigkeit für vergangenes Leid und Frieden für die Zukunft.
Überleben sichern und Empowerment: Der Tamile Narasingham hilft Witwen, Waisen und Schwerhörigen wirtschaftlich auf die Beine. Sie haben am meisten unter dem Bürgerkrieg in Sri Lanka gelitten. In Vavunyia baut Narasingham ganze Dörfer wieder auf, gründet Handwerksbetriebe, veranstaltet Geundheitstrainings, betreibt eine Schule für Gehörlose und eine Farm für ökologische Landwirtschaft. Die Offensive der singhalesischen Armee im Frühjahr 2009 gegen die Tamilischen Rebellen zwang auch Narasingham vorübergehend, sein Projekt an die Situation anzupassen: Er stellte in dieser Zeit auf Flüchtlings- und Nothilfe um.
Friedenszonen: „Friedenszonen“ vereinen alle der oben genannten Aspekte der Friedensarbeit. In Bürgerkriegen gerät die Bevölkerung leicht zwischen die Fronten. Wenn sie nicht ewig auf die Einsicht der bewaffneten Gruppen warten will, muss sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Auf Mindanao, Süd-Philippinen, kämpfen seit vier Jahrzehnten muslimische Separatisten gegen die Zentralregierung. Dutzende Gemeinden haben „Friedenszonen“ ausgerufen und die kämpfenden Parteien dazu gebracht, Sicherheitsgarantien zu leisten. In der Friedenszone Nalapa´an zum Beispiel wurde deshalb seit zehn Jahren nicht mehr gekämpft. Das Gefühl der Sicherheit hat das Leben der Bewohner deutlich verbessert: Christliche und muslimische Reisbauern bestellen nach Jahrzehnten des Misstrauens wieder gemeinsam die Felder; NGOs investieren in den Wiederaufbau und die Landwirtschaft; Kinder gehen ohne Angst zur Schule; es finden gar interreligiöse Dialoge zwischen Muslimen und Christen statt. Weitere Dörfer wollen in die Friedenszone integriert werden. Die treibende Kraft all die Jahre war der Pater Robert Layson. In unermüdlicher Pendeldiplomatie zwischen den Lagern der Rebellen und der Armee errang er die Sicherheitsgarantien. Er baute mit einem Stab von einem Dutzend Mitarbeitern das gegenseitige Misstrauen unter muslimischen und christlichen Dorfchefs in der Friedenszone ab. Nach einem Bombenattentat auf seinen Bischof war er Muslimen gegenüber verbittert. Als dann aber Tausende Flüchtlinge in seinem Konvent Schutz suchten, ließ ihn die Erfahrung des menschlichen Leids seine Ablehnung vergessen. „In jedem Menschen steckt ein guter Kern“, pflegt er zu sagen.
Was die Friedensmacher eint
Bei aller Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten und Methoden der Friedensmacher fallen doch Qualitäten auf, die sie gemeinsam haben:6
– Friedensmacher haben eine Vision/Utopie entwickelt, wie Menschen unterschiedlicher Kultur, ethnischer Identität und Religion zusammen leben können. Sie entwickeln Konzepte für Machtteilung, Interessenausgleich und interkulturelle Kommunikation.
– Sie bringen Fähigkeiten eines Unternehmers mit, organisieren und verwalten Geld und motivieren Mitarbeiter.
– Sie können die Ursachen eines Konflikts analysieren. Sie wissen um Handlungen und Symbole, die andere als provokativ oder bedrohlich empfinden, und vermeiden sie.
– Friedensstifter sind gute Netzwerker. Sie arbeiten mit den unterschiedlichsten Akteuren zusammen, Kombattanten, Regierungsvertreter, Nichtregierungsorganisationen, Unternehmern und Friedensbewegte.
– Sie verfügen über Frustrationstoleranz, können Störungen und Rückschläge aushalten.
– Sie sind kreativ und unkonventionell, reagieren schnell auf veränderte Bedingungen und tun überraschende Lösungsmöglichkeiten auf.
– Friedensstifter verfügen über Empathie, sie können sich in die Denk- und Handlungsweisen, Zwänge und Interessen anderer Menschen einfühlen.
– Ihre Glaubwürdigkeit verdanken sie größtmöglicher Transparenz bezüglich der eigenen Motive und Fähigkeiten.
– Friedensstifter kennen sich selbst. Deshalb schätzen sie ihre Möglichkeiten realistisch ein, haben ihre Emotionen im Griff, sind zu Selbstkritik fähig. Aufgrund einer gefestigten eigenen Identität und ihrer Lebenserfahrung können sie sich konstruktiv mit anderen auseinander setzen.
Vom Mikro- zum Makrofrieden
Internationale Organisationen kennen das Problem, mit ihren Programmen und Projekten tatsächlich die Menschen an der Basis zu erreichen. Auch staatlichen Bürokratien misslingt das häufig, gerade in instabilen Gesellschaften. Die Friedensmacher befinden sich dagegen bereits direkt bei den Menschen. Ihre Hilfe ist höchst effektiv. Sie wirken auf ihr unmittelbares persönliches Umfeld in vielfältiger Weise: Sie sorgen für Kommunikation zwischen verfeindeten Gruppen, verbessern die wirtschaftliche Situation, eröffnen Bildungschancen, bereichern das kulturelle Leben, wirken durch ihr Charisma als Vorbild und prägen dadurch Werte und Haltungen wie den Respekt gegenüber Menschen anderer Ethnien oder Religionsgemeinschaften. Am einzelnen Beispiel lassen sich diese vielschichtigen Erfolge bei der Schaffung eines „Mikro-Friedens“ aufzeigen.
Doch welche Bedeutung hat solch ein Mikro-Friede auf den gesamten Konfliktkontext, auf nationaler Ebene? Sind diese Friedensmacher aus der Zivilgesellschaft nur der Tropfen auf den heißen Stein? Muss sich die Bevölkerung doch wieder auf die Mächtigen verlassen, wenn die Waffen schweigen sollen?
Die Friedensforschung hat statistische Verfahren entwickelt, um den Einfluss verschiedener Faktoren wie Rüstungsausgaben, Bruttoinlandsprodukt oder die Abhängigkeit von Rohstoffen auf das Kriegsrisiko zu messen. Zum Beispiel lässt sich nachweisen, dass der wichtigste gemeinsame Faktor von Ländern im Bürgerkrieg ein niedriges Bruttoinlandsprodukt ist. Doch solche statistische Verfahren haben einen großen blinden Fleck. Die Autoren des Human Security Reports 2009/2010 schreiben:
„Fallstudien zeigen, dass Gefühle wie Angst, Hass, Demütigung, Rachlust, Ehrgefühl, Legitimitätsanspruch, Solidarität zentral für das Verständnis für die Gründe bewaffneter Konflikte sind. Aber sie werden fast vollständig von gängigen quantitativen Analysen ignoriert.“7
Friedens- und Konfliktforscher betonen, dass gesellschaftliche Institutionen unsere Werte und Haltungen nachhaltig prägen und ganz entscheidend unseren Umgang mit Konflikten beeinflussen.8 Familie, Schule, Kirche oder Moschee können uns nachhaltig radikalisieren – oder uns zu toleranten Menschen gegenüber anderen religiösen oder ethnischen Gruppen machen. Genau an dieser Stelle arbeiten die Friedensmacher. Sie setzen ihren Einfluss und ihr Vorbild ein, um die Wertehaltung der lokalen Gemeinschaft im Sinne der Friedensförderung zu prägen und Strukturen zu verändern. Sie vollbringen täglich das diplomatische Kunststück, in regem Kontakt zu Menschen und Institutionen zu bleiben, deren Normen und Anschauungen sie durch ihr eigenes Beispiel gelegentlich auch in Frage stellen. Dadurch verhindern sie ein weiteres Zerbröseln des zivilen Umgangs der Menschen untereinander und das Abdriften von Zivilisten zu bewaffneten Gruppe. Sie machen denen Mut, die sich aus dem Konflikt raushalten wollen, und verringern die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Eskalation. Speziell in Nachkriegssituationen ist dieser Einfluss extrem wichtig, um ein erneutes Aufflammen der Kämpfe abzuwenden. Die weitere Entspannung der Lage hängt dann davon ab, wie viele Friedensmacher lange genug an ihrer Stelle arbeiten und wie gut sie sich mit Gleichgesinnten vernetzen, um aus den vielen Mikrofrieden einen Makrofrieden wachsen zu lassen.
So glaubt Pater Robert Layson daran, dass die vielen Friedenszonen auf Mindanao die Bereitschaft der Entscheidungsträger auf politischer und militärischer Ebene stärken, ein belastbares Friedensabkommen zu schließen. Er und andere Initiatoren von Friedenszonen sind über die Jahre in ständigem Telefonkontakt mit Präsidentenberatern für den Friedensprozess gestanden. So ein Glaube nährt sich auch aus der historischen Erfahrung des Sturzes von Diktator Marcos 1985 durch Massenproteste. Unzählige Initiativen der Zivilgesellschaft hatten sich in den Jahren zuvor gebildet und an diesem historischen Kulminationspunkt zu einer Massendemonstration in Manila vereinigt. Trotz des relativ geringen sozioökonomischen Entwicklungsniveaus der Philippinen weist das Land seither eine enorm starke, auf friedliche Konfliktbearbeitung ausgerichtete Zivilgesellschaft auf. Der Sturz des Tyrannen hat bereits zu einer deutlich Verringerung von bewaffneten Widerstandsbewegungen auf den Philippinen geführt.
Solche kritischen Punkte in der Geschichte eines Landes sind natürlich nicht vorherzusagen. Der Beitrag einer einzelnen Initiative löst sich auch im Nachhinein für den Beobachter immer in der unendlichen Vielzahl unterschiedlicher Einflüsse und Bemühungen auf. Ihr Einfluss ist trotzdem wichtig, denn ohne die vielen kleinen Schritte wäre der Ausgang ein anderer gewesen.
Wollte man sie trotzdem statistisch erfassen, müssten Forscher jahrelang jeder kleinen Spur nachgehen. Sie müssten über öffentliche Gelder bezahlt werden, vielleicht aus dem gleichen Topf, in dem dann weniger für die eigentlichen Friedensprojekte übrig bliebe. Man würde aus Sorge um die Erfassung der Wirkung die Wirkung selbst verringern. Das würde zu einer „soziologischen Unschärferelation“ führen: Die Beobachtung des Objekts verändert dessen Energielevel.
Machen wir es uns deshalb leichter und lassen wir unsere Phantasie im Nebel der Unsicherheit Fakten schaffen: zwei Szenarien spinnen auf Basis einer realen Situation fort, wie sich ein Mikrofriede auf die Makroebene auswirken könnte.
Szenario 1: Die Friedensmacher der Elite de Hip-Hop
Zu Beginn war von den jugendlichen Hip-Hoppern aus Medellín die Rede. Sie haben bereits aus einer Bewegung eine Organisation gemacht und erreichen über ihre Hip Hop-Schule Hunderte von Kindern und Jugendlichen in der Comuna 13. Jugendliche sind zu Führungspersönlichkeiten geworden. Welche Wirkungen sind von der Mikroebene auf die Makroebene vorstellbar? Spinnen wir die Dynamik dieses Transformationsprozesses fort:
a) Die Jugendliche der Elite Hip Hop erkennen, dass sich ihr Erfolgsmodell aus der Comuna 13 auch auf andere Problemviertel Medellíns anwenden lässt. Im Jahr 2013 entsteht gar ein Ableger der Elite in der Hauptstadt Bogota und in Cali. Auch dort spielt Hip Hop eine große Rolle und ist als Magnet für engagierte Jugendliche geeignet.
b) Einzelne Unternehmer beeindruckt das Bemühen dieser Jugendlichen, ihr Leben verändern zu wollen. Sie sponsorn die Hip Hop-Schule mit Stipendien für die Lehrer. Über die Jahre legen sie ihre Scheu vor jugendlichen Bewerbern aus der Comuna 13 ab und lassen sie bei Vorstellungsgesprächen nicht länger abblitzen, nur weil die falsche Adresse auf dem Briefbogen steht. Dies trägt zu besseren Jobchancen und damit einem steigenden Lebensstandard in der Comuna 13 und anderen Vierteln bei.
c) Der Rapper X gelangt durch seine Songs zu nationaler Berühmtheit. Er singt in seinen Texten vom Leben in der Comuna 13 und von seinen Träumen für eine friedliche Zukunft. Medien interviewen ihn. Zum ersten Mal blickt die kolumbianische Mittel- und Oberschicht hinter die Verbrechensstatistik solcher Viertel und nimmt von den Problemen und Hoffnungen solcher Jugendlicher Notiz.
d) Der musikalische Erfolg einiger Bands steigt manchem Jugendlichen zu Kopf. Sie verlangen so hohe Gagen bei Auftritten, dass Festivals abgesagt werden müssen. In den Versammlungen der Elite wird heftig diskutiert. Es setzt sich die Meinung durch, dass nach wie vor die Transformation des Konflikts und nicht das Geldverdienen im Vordergrund stehen muss. Einige Bands verlassen die Elite de Hip Hop.
e) Jeison Castaño, der im Jahr 2011 noch den „politischen Ausschuss“ der Elite de Hip Hop leitete, wird nach fünf Jahren mit seinem Engagement unzufrieden: Er möchte dem Problem an die Wurzel. Solange der internationale Kokainhandel die kriminellen Gangs finanziert, wird es Waffen und Gewalt geben. Er gründet deshalb die NGO „Enough is enough“. Sie macht sich auf nationaler Ebene für ein Umdenken in der internationalen Drogenpolitik stark. „Enough is enough“ will nachweisen, dass die Drogenpolitik der kolumbianischen und der amerikanischen Regierung versagt hat. Seit Jahrzehnten trägt der „Drogenkrieg“ zur Militarisierung Kolumbiens bei, hat das Angebot an Kokain nur verknappt, den Preis dadurch in die Höhe getrieben und immer neue Anreize zur Produktion von Kokain gesetzt. Jeison Castaño vernetzt sich international mit ähnlichen Initiativen aus Mexiko, den USA und Europa. Sie fordern die Legalisierung von Kokain in den Konsumentenländern, die schärfere Kontrolle leichter Waffen und die strafrechtliche Verfolgung von Militärs und Polizisten, die mit der Drogenmafia gemeinsame Sache machen. Eine liberalisierte Medienlandschaft in Kolumbien verleiht den Forderungen im Land eine große Plattform und ermöglicht die Veröffentlichung von Skandalen.
f) Jeison Castaño, mittlerweile zu bescheidener Prominenz in den Medien gekommen, tritt der ökologischen Partei Kolumbiens bei und wird deren drogenpolitischer Sprecher. Ihr Spitzenkandidat, Antanas Mockus, kann bei den Präsidentschaftswahlen 2016 den amtierenden Präsidenten ablösen, weil dieser seine Versprechen für mehr soziale Gerechtigkeit nicht eingelöst hat. Jeison Castaño wird zum Berater des Präsidenten für dessen „Reforma General“, die erstmals die soziale Ungleichheit in Kolumbien als Hauptursache für die vielen bewaffneten Konflikte in Kolumbien und die Anfälligkeit für Drogenkriminalität thematisiert.
g) Nach vier Jahren „Reforma General“ sind auch auf dem Land Anzeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs zu spüren. Die Regierung Mockus kann Kokainbauern zur Substituierung ihrer Kokaproduktion durch subventionierte Produkte für den regionalen Markt bewegen. Die verbleibende Guerillatrupps haben massive Rekrutierungsprobleme. Die ENL hat sich ganz aufgelöst, die FARC ist auf achthundert Mann zusammen geschrumpft. Zwangsrekrutierungen von Kindern und Jugendlichen nehmen zu.
h) Nach zwanzig Jahren ziehen tatsächlich Leute freiwillig in die Comuna 13: Die Luft ist dort am westlichen Rand Medellíns besser und es kommt kaum mehr zu Schießereien und Toten. Der Drogenkonsum in der Comuna 13 ist stark zurück gegangen, der Kampf um Einflusszonen war für die Drogenmafia mit zu hohen Kosten verbunden.
Szenario 2: Die Medien
Ausgangslage
Es klang in der Friedensutopie für die Comuna 13 an: Die Medien spielen eine zentrale Rolle bei der Transformation einer Gesellschaft. Sie können die Neigung zur militärischen Lösung von Konflikte verstärken oder abschwächen. Die Medien mögen bewaffnete Konflikte. Sie liefern starke Emotionen wie Angst, Hass, Sieg und Niederlage und die damit verbundenen Bildmotive. Die Darstellung von Antagonismen entspricht der menschlichen Faszination von dramatischen Handlungsverläufen. Krieg lässt sich auf einzelne wenige Ereignisse verdichten. Frieden ist ein langwieriger Prozess.
Durch die Darstellung des Konflikts können ihn Medienmacher perpetuieren, Ängste immer wieder neu erzeugen, statt auf mögliche Lösungen hinzuweisen. Diese Zusammenhänge gelten sowohl für die Medien im Krisengebiet selbst, wie für die Medien anderer Länder, die über die Krise berichten. Das Projekt Peace Counts setzt genau an dieser Stelle an. Es sucht Wege der Darstellung des gelungenen Friedens, die mit den Gesetzmäßigkeiten der Massenmedien kompatibel sind.
Zentrales Element der Dokumentationen sind die Friedensmacher. Sie sind Identifikationsfiguren für Leser, Hörer und Zuschauer. Sie machen Frieden anschaulich. Sie haben konkrete Lösungsvorschläge. Michael Gleich, der Gründer von Peace Counts, hat für Journalismus, der sich für Lösungen von Problemen interessiert, den Begriff des konstruktiven Journalismus geprägt.9 Ob bei Fragen des Umweltschutzes, der kulturellen Diversität oder des Friedens, konstruktiver Journalismus deckt ein Informationsbedürfnis des Medienpublikums ab, genauso wie Nachrichtenjournalismus oder investigativer Journalismus, der sich mit dem Aufdecken von Skandalen befasst.
Über die Medien lässt sich die Wirkung der Lösungsvorschläge vervielfachen: Sie sind nicht mehr nur ein Angebot an das direkte Umfeld des Friedensmachers, sondern beeinflussen im besten Fall die gesamte öffentliche Debatte über den richtigen Umgang mit Konflikten.
Wie gut die Friedensmacher als Rollenvorbilder funktionieren, beweisen auch die Workshops des Instituts für Friedenspädagogik Tübingen. Das Institut für Friedenspädagogik veranstaltet diese Workshops an deutschen Schulen und auch mit Multiplikatoren in den Krisenländern.10 Texte und Bilder von Peace Counts sind darin Grundlagen für Gespräche über Strategien zur Konfliktbearbeitung.
Personalisiertes Erzählen, das weiß jeder Journalist, ist stilistisch anspruchsvoller als das übliche Abfassen von Nachrichten oder Kommentaren. Um diesen Kompetenz zu stärken, hat Peace Counts ein Ausbildungsprogramm in konstruktivem Journalismus für Reporter in Krisenregionen entwickelt. Es funktioniert in drei Schritten. Am Anfang führt ein Workshop in die Idee des konstruktiven Journalismus ein und bereitet eine gemeinsame Produktion von Reportagen über Friedensmacher vor. In einem zweiten Schritten werden Autoren, Fotografen, Radio- und Fernsehreporter ins Landesinnere auf Recherche geschickt und produzieren Texte, Fotos, Filme. Die Ergebnisse dienen als Grundlage intensiver Diskussionen in einem zweiten Workshop. Beim abschließenden dritten Schritt unterstützt Peace Counts die Teilnehmer bei der Veröffentlichung der Beiträge in den lokalen Medien und eigenen Formaten.
Ein Beispiel: Peace Counts en Côte d´Ivoire
Im Jahr 2009 initiierte Peace Counts ein Projekt mit ivorischen Fotografen und Journalisten, die gemeinsam zehn Reportagen über ivorische Friedensmacher produzierten.
Schritt 1: Zu Beginn des Projekts stand die Themensuche. Mit Hilfe von Elfenbeinküsten-Experten, der ivorischen Reporter und dem Input zahlreicher internationaler und lokaler NGOs stand am Ende eine beeindruckend lange Liste mit Beispielen, die selbst die Themen-Zuträger überraschte und ein neues Licht auf den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Stabilisierung des Landes warf.
Schritt 2: Recherchen im Landesinneren ist für ivorische Reporter eine Seltenheit. Ihr täglich Brot besteht darin, auf Pressekonferenzen zu gehen und aufzuschreiben, was eine politische Führungsfigur gesagt hat. Am nächsten Tag dann die Entgegnung dessen Widersachers. Berichterstattung über die Zivilgesellschaft findet kaum statt. Die zählt nicht viel. Dadurch wird wichtige Information nicht aufbereitet. Dass der Reporter, der rausgeht und seine Geschichte sucht, im Vergleich zum Redakteur am Schreibtisch wenig gilt, lässt sich bereits an den Gehaltsstrukturen in Redaktionen ablesen: Der Redakteur verdient mehr. Reporter sind nur die Anfänger. Die gemeinsame Produktion durch Peace Counts zielt auch darauf ab, den Funken der Reporterleidenschaft bei den Teilnehmer zu nähren und ihre Funktion wertzuschätzen.
Schritt 3: Für die Veröffentlichung der Reportagen wählte Peace Counts en Cote d´Ivoire ein traditionelles afrikanisches Format: Ein Erzähler fuhr durchs Land und erzählte auf öffentlichen Plätzen die Geschichten. Der Moderator Soul Oulai machte daraus eine fahrende Radio-Show und erreichte erstmals in dem zerrissenen Land die Kooperation zwischen verschiedenen Rebellensendern und dem Regierungssender RTI. Das Radio ist das wichtigste Medium in der Elfenbeinküste und anderen afrikanischen Ländern. So erfuhren auch die Analphabeten unter den Zuhörern (rund die Hälfte der Bevölkerung kann weder lesen noch schreiben) von den Methoden und Erfahrungen der Friedensmacher.
Das Projekt hatte Wirkungen auf der Makroebene, zum Beispiel wollte der Minister für Versöhnung die Friedensmacher kennen lernen. Die Arbeit der Friedensmacher wurde einem Millionenpublikum zu Gehör gebracht. Sie riefen nach der Ausstrahlung von Sendungen die Journalisten an und berichteten begeistert, dass ein Nachbar sie angerufen habe, der sie im Radio gehört habe… Journalisten wurde die Bedeutung von Themen aus der Zivilgesellschaft nahe gelegt und die nötigen Techniken vermittelt, diese auch aufzubereiten. Optimalerweise setzen sich diese Journalisten in Zukunft aus eigenem Antrieb für solche Themen ein und lenken dadurch den Blick der Öffentlichkeit, der stier nach oben gerichtet ist, auch auf die Menschen an der Basis, die einen positiven Wandel herbeiführen wollen.
Es ist ein Medienszenario denkbar, das auf einem realen Vorhaben basiert: Der Radiomoderator Soul Oulai, der die Tour durch die Elfenbeinküste für Peace Counts geplant hat, möchte diese Art von konstruktivem Journalismus weiter betreiben und arbeitet an der Gründung des ersten politisch unabhängigen Radiosenders in der Elfenbeinküste: „Peace FM“. Das Land steht vor dem demokratischen Umbruch. „Peace FM“ will die Stimme der neuen Elfenbeinküste und damit auch die Stimme eines neuen Afrikas sein.
Die Medienutopie
Welcher Einfluss von „Peace FM“ auf die Konfliktsituation in der Elfenbeinküste wäre denkbar?
Ein Zukunftsszenario kann so aussehen:
a) „Peace FM“ hat feste Programmplätze für die Berichterstattung über Friedensmacher. Sie werden zu Interviews ins Studio geladen, wenn sie anreisen können. Ein landesweites Netz von Korrespondenten produziert ansonsten Feature über sie und sendet sie nach Abidjan. Damit gibt es in der Elfenbeinküste erstmals ein Massenmedium, das systematisch und regelmäßig über die Aktivitäten der Zivilgesellschaft erstellt und sie somit aufwertet.
b) Die Ausbildung dieser Korrespondenten gewährleistet Soul Oulai in Zusammenarbeit mit Peace Counts. Sie führen ein neues Format ein: Das Feature. Es ist aufwändiger zu produzieren, liefert aber auch mehr Hintergrund-Informationen und ist besser geeignet, die Arbeit von Friedensmachern verständlich zu machen.
c) „Peace FM“ sendet auch ein buntes Unterhaltungsprogramm, das erstens sicherstellt, dass der Sender auch von vielen Ivorern gehört wird, und zweitens, dass sich der Sender über Werbeeinnahmen finanzieren kann und unabhängig bleibt – auch vom Tropf internationaler Geber.
d) Die Friedensmacher sehen sich in ihrer Arbeit bestätigt: Sie hören sich selbst im Radio, werden von Nachbarn und Freunden auf die Sendung angesprochen. Der Respekt vor ihrer Arbeit und das Wissen um ihre Methoden steigen und dient Nachahmern als Inspiration. Die Zahl der Friedensmacher steigt.
e) Die breite Öffentlichkeit wird für das Thema der Konfliktbearbeitung sensibilisiert. Über die Beispiele der Friedensmacher, die sie im Radio hören, sensibilisieren sie sich für die Möglichkeit, mit Menschen einer anderen Ethnie, einer anderen politischen Überzeugung oder eines anderen Glaubens zusammen zu arbeiten und eine gemeinsame Basis zu finden. Es wird für politische Führer schwieriger, ethnische, politische oder religiöse gegeneinander auszuspielen. Sie können nicht länger auf kritiklose Loyalität ihrer Anhängerschaft bauen, sie gar zu Gewalt gegen das jeweils andere Lager aufstacheln.
f) Die politische Klasse merkt, dass sie ihre Rhetorik auf eine aufgeklärtere Wählerschaft einstellen muss. Wahlkämpfe können nicht mehr rein über die Herabwürdigung anderer Ethnien geführt werden. Auch korruptes Verhalten wird riskanter: Das kritische Publikum verlangt Transparenz.
g) Die Elfenbeinküste wird wieder zu einer stabilen Demokratie. Ihre Entwicklung strahlt auf ganz Afrika aus.
h) „Peace FM“ sendet nicht mehr nur in der Elfenbeinküste, sondern in ganz Westafrika, und gibt damit der demokratischen und friedvollen Entwicklung dieser Länder ähnliche Impulse.
Gedanken zu Wandlungsprozessen
Der Sinologe François Jullien hat in seinem Buch „Die stillen Wandlungen“ sehr anregende Überlegungen über die Schwierigkeit in der europäischen Geistesgeschichte angestellt, Wandel zu begreifen. Platon als Ausgangspunkt nehmend beschreibt er die wissenschaftliche Grundmethode, die Welt in Kategorien zu zerlegen, die abhängige von der unabhängigen Variablen, das „handelnde Subjekt“ vom Rest der Welt. Der „Wandel“ als solcher aber passe in keine Kategorie, er beschreibe immer „das Ganze“, das sich über unendliche viele kleine Schritte verändere. Sie seien so klein, dass sie uns gar nicht auffielen. Wir können einer Pflanze nicht beim Wachsen, dem Mensch nicht beim Altern zuschauen – nur zwei Zustände miteinander vergleichen und erstaunt feststellen, dass sie nicht identisch sind. Doch was ist in der Zwischenzeit geschehen? Echte Wandlung, schreibt François Jullien, vollziehe sich still. Selbst Revolutionen, von Historikern als einschneidende Ereignisse in der Geschichte eines Landes beschrieben, bewertet François Jullien lediglich als Indikatoren für die „stille Wandlungen“, die sich unbemerkt bereits weitgehend vollzogen haben. Die Möglichkeit der Revolution war schon längst im Handeln der Menschen angelegt, der Versuch, sich ihnen zu widersetzen, hat sie nur gestärkt und zur Explosion gebracht.11
Wenn ein bewaffneter Konflikt nach langer Zeit des Bürgerkriegs beigelegt wurde, dann haben wir es vielleicht mit einer stillen Wandlung zu tun, die unbemerkt hinter dem Getöse aus Kriegsrhetorik und Friedensverhandlungen stattgefunden hat und zu der wesentlich die Menschen beigetragen haben, die schon bereits zu Kriegszeiten die Möglichkeit eines umfassenden Frieden denken, fühlen und leben konnten.
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Erschienen in Hans-Joachim Gögl, Josef Kittinger (Hrsg.): „Tage der Utopie. Entwürfe für eine gute Zukunft“, Bucher Verlag 2011.
Fußnoten:
1 Peace Counts-Reportagen sind in zahlreichen namhaften Magazinen (Stern, El País Semanal, Focus, Chrismon, Brand Eins usw.) und Zeitungen (NZZ, SZ, Frankfurter Rundschau usw.) erschienen und wurden von Radiostationen gesendet (im WDR z.B. eine Reihe mit 18 Halbstunden-Features).
5 Ein klassisches Beispiel ist die Gründung des Deutschen Reiches 1871 nach den Kriegen Preußens und seiner Verbündeter zuerst gegen Dänemark, dann gegen Österreich und den Deutschen Bund und schließlich gegen Frankreich.
6 Eine ausführliche Darstellung dieser Thesen findet sich im Buch „Die Friedensmacher“ von Petra Gerster und Michael Gleich, Hanser Verlag, 2005, S. 197-225.
9 Ein Essay von Michael Gleich über konstruktiven Journalismus findet sich hier.
10 Das Institut für Friedenspädagogik hat im Jahr 2009 eine Zwischenbilanz des Projekts Peace Counts on tour gezogen und in einer Broschüre anschaulich und ausführlich die Methoden der Workshops geschildert werden: „Peace Counts on Tour, Zwischenbilanz anlässlich der Verleihung des Peter-Becker-Preises für Friedens- und Konfliktforschung“, 2009, ISBN: 978-3-932444-49-4. Siehe auch www.friedenspaedagogik.de.
11 Historiker beschäftigen sich längst auch mit Wandlungen, die stiller sind als Revolutionen. Zu nennen ist hier vor allem die Annales-Schule und die Arbeiten Fernand Braudels, der sich mehr für Strukturen als für die Ereignisse interessierte, mit denen Politik-, Diplomatie- und Militärgeschichte geschrieben wird.