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Bürgerkrieg Reloaded
Vor 25 Jahren legten sie ihre Heimat in Schutt und Asche. Heute wollen sie ihren Landsleuten die Gewalt ausreden, solange die Zeit dafür noch reicht – während der Krieg um Syrien auf den Libanon übergreift. Auf die „Fighters for Peace“ wartet eine Mission Impossible.
Text: Jan Rübel
Fotos: Frank Schultze
Zu den Geheimnissen des Mannes mit dem Clowngesicht gehört, wie er morgens ins Auto steigt. Das dauert ein wenig länger, er hantiert dann mit etwas. Und erst wenn er weiß, dass mit dem Wagen alles stimmt und keine Gefahr droht, fährt er los und lässt sein Haus mit den vergitterten Fenstern und dem Stacheldraht auf dem Balkon hinter sich. Aber darüber spricht er ungern, lieber konzentrieren sich seine großen Augen auf den anschwellenden Autostau kurz vor dem Hafen in der City.
Schnell die Nachrichtenlage überprüft. „Schießereien im Norden und im Süden des Landes“, liest er lakonisch und legt das Smartphone ins Mittelfach, „gut, dass Beirut in der Mitte liegt“. Eigentlich weiten sich seine Augen nur stets, als wunderten sie sich; auch wenn er einen Witz streut, oder Erinnertes. In Downtown, vorbei am ausgetrockneten Flussbecken, schaut er kurz nach rechts auf eine riesige Halle, „Sleep Comfort“ steht in großen Lettern an der Möbelfabrik. „Ja, hier war eines unserer Gefängnisse.“ Wenn As’ad Shaftari vom Bürgerkrieg spricht, dem sich die Libanesen zwischen 1975 und 1990 hingaben, dann wirkt der ganz nah; als sei er noch gestern in den Trakten gewesen, habe Frauen und Männer verhört. Beiläufig schildert er sein früheres Handwerk, aber ganz akkurat.
Wie fern dagegen ist der Krieg an der ehemals Grünen Linie, durch die sich der Wagen nun schlängelt, sie trägt kaum noch Spuren von Granaten und Gewehren. Einstmals markierte sie den durchsiebten Frontverlauf zwischen muslimischem Westen und christlichem Osten. Heute möchte sie ihre Geschichte vergessen machen, liftet sich wie ganz Beirut. Die steigenden Immobilienpreise verwandeln die Stadt in ein Disneyland aus gelackten Glastürmen, Neoklassik in Sandstein und Ruinensprenkeln.
Doch die Vergangenheit ist ein ungebetener Gast, der hin und wieder an die Haustür klopft. Über den Städten Trablous und Saida liegt in diesen Tagen eine Spannung, Anhänger und Gegner des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gehen aufeinander los. Bomben werden gelegt, Machtfragen gestellt. As’ad Shaftari ist so etwas wie ein Wecker für sein Land. Lange tickte er unbemerkt, nun schlägt es Alarm. „Wissen die Leute nicht, worauf wir wieder zutreiben?“
Er ist ein kleiner 58-jähriger Mann, der schon immer mehr wusste als Andere, der junge As’ad übersprang Schulklassen, der erwachsene diente den berüchtigten Forces Libanaises, der Miliz der christlichen Maroniten, als Geheimdienstchef. Und er ist der erste Warlord, der seine Kriegstaten öffentlich bereut. Deshalb hat er jetzt diesen Termin, in seinem Büro beim Nationalmuseum.
Im ersten Stock eines Baus in verblichenem Braun beugen sich sechs Mittfünfziger über einen Tablet: Einer von ihnen hat die neuesten Videoaufnahmen aus seiner Nachbarschaft in Saida mitgebracht: Männer, die vom Balkon aus schießen, Männer, die in gelben Westen mit Kalaschnikows über einen Parkplatz schleichen – Szenen einer Auseinandersetzung zwischen sunnitischen Extremisten und Milizionären der radikal-schiitischen Hizbullah, As’ad Shaftari sagt: „Ich könnte kotzen.“
Er klappt den Computer zu. „Sind die Straßen morgen offen? Wir wollen doch nach Trablous zu einer Schulklasse.“ Alle nicken nur kurz. Entschlossen wirken sie, um viele Worte bemüht sich keiner. Eine seltsame Ruhe geht von ihnen aus, schneidend und gelassen zugleich. Damals, im Bürgerkrieg, bekämpften sie sich – Faris As’ad von der schiitischen Amal-Miliz und Haidar Ammacha von den Palästinensern um George Habasch, Badri Abu Diab von der drusischen PSP und Fuad Dirani von der Organisation für Kommunistische Aktion, Ziad Saab von der Kommunistischen Partei und As’ad Shaftari, damals Auge und Ohr der rechtskonservativen Christenmiliz. Vor fünf Monaten liefen sie sich zufällig bei einem Treffen verschiedener Bürgerrechtsgruppen über den Weg und stellten fest: Heute stehen sie auf einer Seite. Was mit ihrem Land gerade passiert, raubt ihnen den Nerv.
Rasch gaben sie sich einen Namen, „Fighters for Peace“. Heute feilen sie an einem Brief, mit dem sie erstmals an die Öffentlichkeit gehen wollen. „Damals dachten wir, wir stünden im Recht“, liest Ziad Saab laut vor. „Wir töteten, entführten und zerstörten.“ Und an die Kämpfer von heute: „Ihr bedroht nicht nur das Land, sondern auch Euch selbst. Jeder abgefeuerte Schuss wirkt beim Schützen wie Gift.“ As’ad Shaftari trommelt mit den Fingern entlang der Tischkante. Er fragt: „Ginge das noch treffender?“ Die anderen grinsen verlegen.
Die „Fighters for Peace“ stehen vor einer schwierigen Mission. Auf der Straße ist jeder von ihnen angesehen, ein Held. Man respektiert sie, fürchtet sich ein wenig vor ihnen. Und nun wollen sie gegen ihren eigenen militärischen Nimbus anreden. An all das erinnern, was schief lief damals. Es ist, als redeten sie gegen sich selbst an. Sie stehen ziemlich allein da.
Am nächsten Tag versteckt sich die Sonne hinter grauen Morgenwolken, als As’ad Shaftari in Trablous aus seinem Wagen steigt. Die Fahrt von der Millionenmetropole Beirut zur kleineren Schwester im Norden verlief entlang der 90 Kilometer wie aufgezogen, die Straßen leergefegt. Ein einsamer Panzer am Wegesrand trug von der vergangenen Nacht ein Graffito von Bug bis Heck: „Es gibt keinen Gott außer Gott.“
Nicht alle Schüler sind heute erschienen, insgesamt 20 schluckt die große gelbbraune Aula im ersten Stock. Wegen der Schüsse blieben einige daheim. Ziad Saab, der ehemalige Kommunist, beginnt mit einem Witz. „Du sitzt rechts“, sagt er zu As’ad Shaftari, setzt sich links auf einen schneeweißen Plastikstuhl. Und lacht.
Neugierig mustern die Kids die beiden Kämpfer. „Was habt ihr im Bürgerkrieg gemacht?“, fragt Nahil, 14. Ziad Saab weicht aus. „Schlimme Dinge, aber darüber wollen wir heute nicht im Detail reden.“ As’ad Shaftari reckt sich, er wirkt jetzt größer. „Wir wollen über Waffen reden. Sie sind nicht cool. Sie sind nur zum Töten.“ Er wiederholt die Passage aus dem Brief von gestern: „Und mit jedem abgefeuerten Schuss tötet man ein Stück seiner Seele.“ Es klingt pathetisch. Najib, 14, ist nicht überzeugt.
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es.“ So wie er weiß, dass er sein Auto täglich auf Sprengstoff kontrollieren muss, aber nicht, warum.
Die Kinder erzählen von den Schusswechseln in ihrer Nachbarschaft. „Ab 18 Uhr darf ich nicht mehr auf die Straße“, sagt Omar,13. „Die Bürgersteige sind wie hochgeklappt.“ Und Najib: „Da braucht man selbst eine Waffe. Ich mag sie nicht, aber eine Pistole macht mich stark, und verteidigen muss ich mich doch.“ As’ad horcht auf. „Wer sagt das?“ Najib zögert. „Na, Alle. In meiner Verwandtschaft haben Alle Waffen daheim.“
Als der Bürgerkrieg endete, gab kein Kämpfer seine Waffen ab. Man verschloss sie im Nachtschrank. Sie sind da – und töten noch heute, bei Hochzeiten, wenn eine Kugel im Jubel irrlichtert, oder ein Streit zwischen Jugendlichen eskaliert und die Pistole schneller zieht als der Verstand denkt. 1200 solcher Toten gab es 2012 im Vier-Millionen-Land. In den Schulbüchern steht derweil kein Wort über den Bürgerkrieg, eine kollektive Amnesie verschrieb sich das Land. 1991 hatte eine Generalamnestie alle Kriegsverbrechen zu den Akten gelegt. Für Versöhnung war kein Platz. Der Friede wurde bloß deklariert, unter der in der Weltgeschichte oft gesungenen Leier: Keine Sieger, keine Besiegten.
As’ad Shaftari steht auf, seine Hände legen sich auf beide Ohren. „Alle haben das gesagt? Ich kann das nicht mehr hören.“ Stille Post steht nun auf dem Programm – das Spiel als Beweis dafür, wie schnell eine Information ihren Inhalt ändert. „Hört nie auf Dritte“, appellieren die Männer an die Jugendlichen. „Hört nur darauf, was der Nächste sagt. Und haltet Ausschau nach gemeinsamen Interessen.“ Sie blicken, als wollten sie die Kids hypnotisieren.
Ihr Job ist hart. So tief sitzen Angst und Stolz, die alten Bindungen an Familie, Clan und Konfession. Keine der 17 Religionsgemeinschaften im Libanon ist stark genug, alle anderen vollends zu dominieren. Das schafft steten Druck. Charles Harb, Professor für Psychologie an der Amerikanischen Universität von Beirut, machte 2010 in einer Studie erschreckende Entdeckungen über die libanesische Jugend: Ein Drittel bekennt sich offen zu feindlichen Vorurteilen gegenüber anderen Konfessionen, zwei Drittel würden niemals interkonfessionell heiraten. Diese Grundtendenzen haben sich in den vergangenen Jahren sogar verstärkt. Waffen gehören dazu, Nachfrage und Preise steigen derzeit – wegen der Kriegskrise im Nachbarland.
Den Abend lassen die Beiden in einem Café in Beirut ausklingen. Ziad Saab kippt Bier in ein tiefgekühltes Glas mit Zitronensaft und Salzkruste am Rand, während sich die Straße hin zum Sternplatz füllt. Die Sonne legt ein mattes Gold auf den Sandstein. Downtown ist in Ausgehlaune, Paare ganz in pastellfarbenem Lacoste schlendern vorbei. Früher stand hier der alte Basar, Bagger schoben Mitte der Neunziger alles, was von ihm übrig geblieben war, ins Meer. Heute erhebt sich ein ganzer hellbrauner Prachtbautenkiez aus dem Nichts, mit Säulengängen unter Kreuzrippengewölben und kleinen Balkonen, so leer wie die teuren Wohnungen hinter ihnen. Alles soll alt wirken und dennoch neu – ein stummes Zwiegespräch zweier Zeiten, das Ziad Saab und As’ad Shaftari aufnehmen, immer wieder kreisen sie um die Vergangenheit.
„Wenn wir uns 1976 in einem Café getroffen hätten“, sagt Ziad Saab und grinst nach einem Schluck Zitronenbier, „hättest du mir eine Bombe unter den Tisch gelegt. Und ich hätte draußen gewartet, um Dich abzuknallen.“ As’ad Shaftari lächelt zurück, ganz ohne Limone. „Stimmt nicht. Wir Libanesen sind exzellente Lügner. Wir hätten uns umarmt und miteinander getrunken. Zurück daheim hätten wir dann geplant, wie wir uns gegenseitig fertig machen, zwei, drei Tage später.“
Damals lebte Ziad Saab im Untergrund, gejagt von As’ads Shaftaris Geheimdienst, vom Mossad und anderen; er war einer der wichtigsten Kommandeure der kommunistischen Milizen, „ich wechselte täglich den Schlafplatz“. Mit 14 trat er der KP ein. Er wollte die Welt verbessern. Und er hatte gehört, dass man in der KP nicht an Gott glaubt, das fand er gut: „Als ich ein Kind war, besuchte uns ab und zu ein religiöser Scheich zur Unterredung. Er wollte seine Ruhe dabei; wir sieben Geschwister wurden ins andere Zimmer unserer Zweiraumwohnung weggesperrt.“ Das machte den Scheich und seine Religion bei den Kids wenig beliebt.
Mit 17 übernahm Ziad Saab in der Partei die Leitung der „militärischen Abteilung“, „nur weil ich mit 1,87 Meter der Größte war“. Löwenfalten umspielen seinen Mund. Mit 18 zog er 1975 in den Krieg. Schlachten fallen ihm ein, erzählt von Gewaltmärschen und Verstecken. Dass er noch heute von Toten träumt und nachts kaum durchschläft, weil früher die Nacht zum Kämpfen war, erwähnt er nebenbei. Da fällt am Nachbartisch ein Glas um, Ziad Saab zuckt zusammen. Terror im Gesicht. Schaut sich um, richtet sich wieder auf. „Wo war ich stehen geblieben?“ As’ad Shaftari dagegen schweigt heute Abend viel. Seine Augen schimmern mild, nicht so hart wie vor einem Dutzend Jahren. Betrat er damals ein Café, teilten seine Blicke aus. Heute dreht sich kaum jemand nach ihm um.
Die „Fighters for Peace“ erwartet kein Spaziergang. Möglichst viele Jugendliche wollen sie in Schulen aufsuchen, „und wir müssen ins Fernsehen“, sagt Ziad Saab, „nur so erreichen wir die ehemaligen Kämpfer“. Um dem Volk die Gewalt auszureden, solange die Zeit dafür noch reicht.
Das klingt banal. Krieg ist ein Monstrum. Keiner will ihn, und dennoch taucht er plötzlich auf. Gerufen von Männern, die sich davon etwas versprechen, und denen man es erlaubt. Krieg sucht nach Schwächen wie jenen im politischen System des Libanon. Seine Grundfesten wanken unter dem Kampf in Syrien. Mit dem „Staat“ oder einer „Nation“ identifiziert sich kaum jemand, setzt stattdessen auf seine Konfession als Staat im Staate; Politik reduziert sich aufs Dirigieren von Geldströmen. So droht der Spalt im Land zwischen Befürwortern und Gegnern des Damaszener Regimes die Institutionen zu lähmen. Druck von außen, Spaltung im Inneren: Das gab es nicht nur 1975 beim Pro und Kontra zur Präsenz palästinensischer Milizen, sondern auch 1958 zur Haltung gegenüber Ägyptens Präsidenten Gamal Abd al-Naser und 1860 zum westeuropäischen Einfluss aufs Land; immer kam es zum Krieg. Und immer ging es im Inneren um die Verteilung von Macht wie bei der US-Fernsehserie „Game of Thrones“ mit mächtigen Familien, Ränken und raschem Griff zur Waffe.
Dies ist die eine Seite des Libanons, die erbarmungslose. Wird es indes einmal persönlich, zeigen die Libanesen Neugierde und Offenheit, Wärme und Respekt – unabhängig von der Konfession. Diese beiden Welten passen nicht zueinander und bilden dennoch ein Land. Eine komische Mission für einen Friedenskämpfer. Vielleicht eine richtige für einen Clown.
„Der Krieg begann mit einem Witz“, sagt As’ad Shaftari, „da war ich fünf“. Damals fand er die Zoten über Muslime selbstverständlich, fühlte sich, wie die anderen in seiner Familie und auf der Straße, als jemand Besseres als Sunniten und Schiiten. Als der Krieg 1975 für ihn begann, war er 20 und entschlossen seine christliche Gemeinschaft gegen die Muslime zu verteidigen. Beendete nebenbei sein Studium der Elektrotechnik und arbeitete sich bei den Forces Libanaises hoch, entschied bald im Geheimdienst über Leben und Tod, war Richter und Henker zugleich. Wie viele Menschen er foltern ließ, wie viele durch sein Urteil starben, weiß er nicht. Als das Kämpfen endlich aufhörte mit seinen Tausenden Toten und bis heute 17.000 Vermissten, „genoss ich es ohne Leibwächter auf der Straße zu spazieren“. Er merkte, dass er den Geruch von Macht nicht brauchte, nicht unbedingt. Dann wurde es ruhig um ihn.
Seine Kameraden machten Karriere. Er, einer der wenigen orthodoxen Christen in der maronitischen Miliz und dort einer der Mächtigsten, stand vor dem Nichts. Nun, wo die Waffen schwiegen und neue Posten vergeben wurden, stand seine Abstammung im Weg: zur richtigen Zeit am falschen Ort. Einen Job fand er kaum, sein Ruf eilte ihm voraus: Die Leute fürchteten ihn. As’ad Shaftari verschloss sich innerlich, lebt seitdem von einer bescheidenen Rente. Und als zehn Jahre später sein zwölfjähriger Sohn ihm im Jahr 2000 erzählte, wie seinen Schulfreund Ekel packe, wenn er eine Moschee passiert, da klickte es in ihm. Da klopfte ihn ein kleiner Mann im Ohr wach. „Ich sah vorm inneren Auge meinen Sohn in einer Militäruniform. Mein Magen drehte sich um.“
Einiges kam hoch. Ein Déjà-vu aus Kriegstagen, ein Ekel, den er tief in seinem Inneren verpackt hatte. Auch ein Staunen über sich selbst und wozu ein Mensch fähig ist. Und vielleicht auch verletzter Stolz, übergangen worden zu sein.
Er setzte sich sofort hin, schrieb binnen fünf Minuten einen Brief an das libanesische Volk. „Ich entschuldige mich“, fing er auf den 500 Wörtern an, „ich wollte das Christentum verteidigen, aber was ich tat, hatte mit dem wahren Christentum nichts zu tun.“ Und erinnerte sich dabei, wie er im Krieg sonntags zur Kirche gegangen war und nicht beichtete, weil er das Töten von Palästinensern nicht als Sünde betrachtet hatte. „Mir dämmerte, dass da etwas schief gelaufen war.“
Er schickte den Brief an eine Nachrichtenagentur. Dort lag er fünf Tage unveröffentlicht, „’das ist zu groß für uns’, sagten die Redakteure“. Jemand rief ihn an, ein Befehl, den Brief zurückzunehmen. As’ad Shaftari ließ sich nichts mehr befehlen und schickte ihn an Zeitungen, eine biss an. Es folgten Todesdrohungen. „Man nannte mich einen Verräter.“ Und dann kam nichts. As’ad Shaftari war der erste Kriegsverbrecher gewesen, der sich der Öffentlichkeit stellt; er blieb der einzige jahrelang bis vor einigen Wochen. Da gründeten sich die „Fighters for Peace“.
Am nächsten Tag geht die Gruppe online. Die Website „Lebanon Debate“ bringt ihren offenen Brief. Binnen Minuten steigt er zum meistgeklickten Beitrag auf. As’ad Shaftari ist unterwegs, da klingelt das Handy. Ziad Saabs Stimme tönt aus dem Hörer. „Zwei Zeitungen haben heute Morgen schon angerufen, sie wollen ein Interview.“ Euphorisch klingt er, nicht so wie gestern Abend beim Abschied. Am Ende hatte Ziad Saab im Café erzählt, wie er 1987, drei Jahre vorm Ausglimmen des Bürgerkriegs, Schluss machen wollte. „Aber die Mehrheit in der Partei war dagegen. Ich beugte mich.“ Er hatte eine Nuss geknackt. „Es war ein Fehler, nicht abzuhauen. Und ich wusste das.“ Die kommunistischen Lehrbücher, die er damals vergötterte, hat er längst weggeschlossen. Selbstkritik, hatte er gesagt, bedeute nicht sich zu ändern, sondern andere. Das habe er in der Partei gelernt. „Daher gibt es von den linken Parteien des Bürgerkriegs bis heute keine Entschuldigung für die eigenen Morde.“ Müde hatten seine Augen ins Dunkel geblickt.
Heute brennt die Sonne auf den glatten Asphalt der Beiruter Ringstraße. Aufgekratzt tippt As’ad Shaftari mit dem Zeigefinger aufs Lenkrad. Ein wichtiges Treffen steht an: Raketen sind aus Syrien in Baalbek eingeschlagen, der großen Stadt im Ostlibanon. Ein Racheakt für die tausende Kämpfer, die Hizbullah dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad an die Seite schickt. Den aufflackernden Kämpfen in vielen Landesteilen hat die notorisch schwache libanesische Armee kaum etwas entgegenzusetzen. Bleiben die Bürger unter sich. „Ein Netzwerk-Treffen“, sagt As’ad Shaftari und lenkt seinen Wagen auf das Gelände der Universität St. Joseph. Verschiedene Bürgerrechtsgruppen treffen sich, man will ein Zeichen setzen gegen den drohenden Krieg.
Er erreicht, wie immer überpünktlich, als erster den Tagungsraum. Knochentrocken steht die Luft. Nach dem zweiten Pfefferminzbonbon auf einem harten Holzstuhl trudeln Andere ein, man begrüßt sich laut, scherzt. As’ad Shaftari bleibt sitzen. Zuckt, als eine zierliche Frau in weißem, ärmellosem Top den Raum betritt, die braunen Haare hinters Ohr gekämmt. Er steht auf, durchmisst den Raum; beide schütteln sich kurz die Hände wie alte Freunde.
Die 25 Gruppenvertreter diskutieren erstmal, wann das Treffen ursprünglich hätte beginnen sollen; As’ad Shaftaris rechter Fuß wippt. „Wir müssen in einem Monat eine nationale Konferenz einberufen“, schlägt schließlich jemand vor. „Das dauert zu lang“, sagt As’ad Shaftari. „Wir sind zu unwichtig. Wo sind denn die Gewerkschaften, die Kirchen oder Parteien? Wir müssen einfach weitermachen. Reden und reden.“ Man geht ohnmächtig auseinander.
Im Flur treffen sie dann aufeinander. „Wie geht es dir?“, fragt As’ad Shaftari die zierliche Frau. Wadad Halwani lächelt scheu. „Ich habe euren Brief gelesen“, sagt sie. „Der ist gut. Aber du weißt, dass das nicht reicht.“ Beide schweigen. „Ich habe mehr von dir erwartet. Du hilfst damit dir selbst, aber nicht uns.“
Wadad Halwani war 31, als sie am 24. September 1982 die Treppen zu ihrer Wohnung hochstieg, an der Tür sah sie ihren Mann Adnan mit zwei Männern. Hab keine Angst, sagte er noch zu ihr, ich bin bald wieder zurück. Er kam nicht wieder, christliche Milizen hatten den Kommunisten entführt. Die Mutter von zwei Söhnen gründete noch im selben Jahr die Gruppe „Familien der Vermissten“. Organisierte Demonstrationen und Sitzblockaden, fordert bis heute mit Hunderten anderen Frauen Auskunft über das Schicksal ihrer Geliebten. Gegen die Warlords von damals, die auch heute die Geschicke des Landes steuern, läuft sie an wie gegen eine Wand. Die Familien der 17.000 Vermissten wollen anfangen zu trauern. Manche klammern sich noch jetzt an eine bizarre Hoffnung, es könne jemand lebend heimkehren.
Er zieht sich die Hand übers Gesicht. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wo all die Massengräber sind.“ Im Krieg habe es so viele Gruppen gegeben, jeder gegen jeden. „Ich war in der Hierarchie zu weit oben, darum kümmerten sich die Fußsoldaten.“
Ruhig mustert sie ihn, ohne Groll. „Ich glaube dir nicht. Du sagst nicht alles, was du weißt.“
As’ad Shaftari hebt die Schultern, verengt die Augen, ist jetzt ein trauriger Clown. Er steht allein. Was er sagte, beträfe auch Andere. Mächtige Mitwisser. Fühlt er sich nicht sicher? Wartet er auf Männer, die seinem Beispiel folgen? Seine Hände machen Stopp. „Ich weiß nichts. Für mich waren das damals Namen und Zahlen.“
Der Pionier, der im Ungefähren bleibt, steigt ins Auto. Eine SMS von Ziad Saab. „Morgen treffen wir Jugendliche in Ramliyeh, in den Schuf-Bergen“, sagt As’ad Shaftari. „Um die 50 Kids!“ Zahlen. Sie zaubern ihm das Lächeln zurück. Er tippt ein paar Nummern, macht Termine aus in Schulen, in einem Jugendzentrum. Lehnt sich zurück. Und dreht den Zündschlüssel, lenkt den Wagen sanft in den Nachmittagsverkehr. Langsam fährt er, überholt von hupenden Taxis, entlang laut rufenden Straßenhändlern und Passanten, gezackt marschieren die. Es ist, als stünde er still, und nur die Welt da draußen dreht auf, die nichts gemein hat mit ihm und flieht in eine Richtung, die nur schaden kann. Die er in ihrem Lauf gern bremsen würde, aber nicht weiß, wie. In der Rue Monot, vorbei an Cafés und Nachtclubs auf dem Weg zur Damaskusstraße, verliert sich seine Spur.