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Die barmherzigen Brüder
Text: Diana Laarz, Zeitenspiegel
Fotos: Sascha Montag, Zeitenspiegel
Zwei Männer helfen in einer jordanischen Grenzstadt den syrischen Flüchtlingen.
Wenn Sami Mougrabi, den alle nur „Doktor Sami“ nennen, erklären soll, warum er Flüchtlingen aus Syrien hilft, erzählt er eine Geschichte über den Propheten Mohammed. Als der vor etwa 1400 Jahren mit seinen Anhängern von Mekka nach Medina zog, lamentierten die neuen Nachbarn nicht lange, sie riefen keine internationale Hilfsorganisation, und auf keinen Fall baten sie irgendeinen Präsidenten oder Minister um Unterstützung. „Sie behandelten einander wie Brüder und teilten alles, was sie hatten.“ Fast flüstert Sami Mougrabi – wie immer, wenn er von diesen alten Zeiten erzählt. So wie damals sollte es auch heute noch funktionieren, findet Sami Mougrabi. „Ich folge dem, was die Geschichte uns gelehrt hat.“
Nun ist Sami Mougrabi nicht unterwegs ins Heilige Land, weder Mekka noch Medina liegen auf seiner Reiseroute. Vielmehr steht er, während er von Mohammed erzählt, hinter dem Tresen seines Geschäftes am Rande der nordjordanischen Stadt Ramtha. Die Grenze zu Syrien ist nur zwei Kilometer entfernt. Wenn dort drüben die Bomben fallen, zittern bei Mougrabi die Schaufenster. Neben Doktor Sami steht sein Halbbruder. Der heißt auch Sami. Zur besseren Unterscheidung und wegen der schlichten Weisheit seiner Worte nennen ihn Freunde und Bekannte „Haddsch Sami“ – den Heiligen Sami.
Der Laden ist Lebensmittelpunkt der Brüder. Eigentlich mehr Spelunke als Geschäft. Frisch ist hier nur der Tee, der – mit Unmengen Zucker gesüßt und einer Prise Zimt aromatisiert – in einer Messingkanne neben der Kasse dampft. An den Mehl- und Kaugummipackungen in den Regalen sind mit den Jahren die Preisschilder verblichen, ein Einkauf bei den Mougrabis ist also nicht zu empfehlen. Aber hinter dem Tresen steht ein schrankgroßer Tresor, aus dem heraus die Brüder einen schwunghaften, aber illegalen Geldwechsel betreiben. Zu jeder Uhrzeit sitzen in dem wohnzimmergroßen Geschäft der Samis mindestens zwei oder drei Gäste auf eilig herbei geschobenen Hockern. Gerade kommt ein Besucher herein, ein Polizist, in der Hand ein Handy. Er reicht Haddsch Sami das Telefon. Am anderen Ende ist eine syrische Flüchtlingsfrau, die der Polizist bei einer seiner Streifen getroffen hat, blechern hallt ihre Stimme aus dem Hörer. Nein, ihr Ehemann sei nicht mitgekommen, da seien nur sie und ihre drei Kinder, sagt sie auf Samis Nachfragen. Auf einer Olivenfarm seien sie gelandet, sie könne nicht sagen wo. Nur, dass sie Hunger leide.
Neben dem einen Sami schlägt der andere ein Heft auf, überblättert einige vollgekritzelte Seiten mit durchgestrichenen Namen und landet schließlich bei der aktuellen Flüchtlings-Hilfe-Liste. 73 Namen stehen dort untereinander. 73 Familien mit den Daten aller Mitglieder. Die Frau am Telefon wird Nummer 74. Neben dem Heft liegt schon ein Stapel Umschläge bereit. In die werden die Brüder später dünne Geldbündel verstauen. Jede der Familien bekommt einen Umschlag. Und bis zum Abend hat Haddsch Sami auch für die Frau einen Ausweg gefunden. Ein Freund wird sie auf der Olivenfarm abholen und nach Ramtha bringen. Und weil er das Telefon gerade mal in der Hand hatte, hat Haddsch Sami auch noch einen Mehltransport über die syrische Grenze organisiert. So funktioniert das Hilfssystem der Gebrüder Mougrabi. Nicht ganz so wie damals bei Mohammed, aber das Prinzip ist das Selbe. „Wir helfen den Bedürftigen, die mit nichts als ihren Kleidern am Leib zu uns kommen“, sagt Doktor Sami.
Mit Flüchtlingen kennen sie sich aus in Jordanien, nicht nur die Mougrabis. Das haschemitische Königreich gilt als die „Schweiz des Nahen Ostens“. Die Jordanier, so sagt man, halten sich gern raus. Sie suchen den Konsens. Dass mag vor allem daran liegen, dass das Land über keine nennenswerten Rohstoffe verfügt. Noch nicht einmal Wasser gibt es genug, Jordanien gilt als eines der trockensten Länder der Erde. Wer so klein und schwach ist, spuckt im Nahen Osten lieber keine großen Töne. Dafür finden Flüchtlinge hier die Stabilität, die bei den Nachbarn Seltenheitswert hat. Es kamen Tschetschenen und Bosnier, während des Irak-Krieg flüchteten 700.000 Iraker nach Jordanien. Die größte Gruppe der Flüchtlinge sind die Palästinenser, sie stellen die Mehrheit im Land. Nun kommen also die Syrer.
Neben dem Libanon hat seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien kein anderes Land so viele Flüchtlinge aufgenommen wie Jordanien. Laut offizieller Zählung des Flüchtlingswerkes der UN sind inzwischen 515.000 Syrer auf jordanischem Gebiet registriert, in der Türkei sind es 434.000, in Ägypten 106.000, Österreich hat bislang noch keine Flüchtlinge aufgenommen. Die inoffiziellen Zahlen, die in Jordanien kursieren sind viel höher. Von einer Million Flüchtlingen ist dort die Rede, manchmal sogar von 1,5 Millionen. Etwa 2500 Syrer überschreiten jeden Tag die 370 Kilometer lange Grenze zum Nachbarland. 45 Checkpoints hat die jordanische Armee eingerichtet, um die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen. Nahe der Stadt Deraa, wo der syrische Aufstand Anfang 2011 begann, markiert ein Drahtzaun die Grenze. Ein Wachturm steht so schief, als drohe er in jeder Sekunde vom Hügel zu kippen. Vor ein paar Monaten haben ihn die syrischen Aufständischen mit einer Rakete getroffen, seitdem kontrolliert die Freie Syrische Armee die Gegend. An den Kommandoposten der Jordanier hat jemand mit schwarzer Farbe „Für Gott, Vaterland und König“ gepinselt. Auf einem Beet davor wachsen Rosen.
Über die Hügel der Grenzregion zieht an einem Abend im Mai eine Kette Menschen. Es sind Syrer, die die Hoffnung auf ein Ende der zermürbenden Explosionen aufgegeben haben. Es sind Großfamilien, zehn bis 20 Personen. Viele Alte sind darunter, und noch mehr Kinder. Die großen schleppen die kleinen Kinder. Die anderen tragen schwere Packen auf ihren Rücken – Decken, Kleidung, Gaskocher – und in den Hosentaschen ihre Familienbücher, damit auch keiner von ihnen bei der Registrierung verloren geht. Als er den letzten Schritt über die Grenze geschafft hat und endlich vor einem jordanischen Soldaten steht, hievt ein halbwüchsiger Junge den Packen von seinem Rücken und schleudert ihn zu Boden. Seine Stimme klingt gepresst vor Wut: „Gott verfluche Baschar Al Assad“. In dieser Nacht wird der Flüchtlingsstrom wie in so vielen Nächten zuvor nicht abreißen. Nach einigen Stunden Wartezeit werden die Syrer mit Bussen in das UN-Flüchtlingslager Zaatari gebracht. Über 100.000 Flüchtlinge leben dort in einer Stadt aus Zelten, die der Staub der jordanischen Wüste rot gefärbt hat. Gemessen an der Einwohnerzahl ist Zaatari inzwischen die fünftgrößte Stadt Jordaniens. Es gibt dort Wasser, Essen, Schulen, Teeverkäufer und Grillhähnchen am Spieß am Straßenrand. Aber auch Kinder, die lieber mit Steinen auf Menschen werfen anstatt in die Schule zu gehen, und Kriminelle, die ganze Zelt-Straßen kontrollieren und ohne deren Erlaubnis kein Tee ausgeschenkt werden darf. Es gibt Prostitution, Schmuggel und schier grenzenlose Langeweile. In diesem Moloch halten es nicht viele lange aus. Wer Freunde oder Geld hat, flüchtet oder kauft sich raus aus dem Flüchtlingslager Zaatari. Und wer Glück hat, landet dann irgendwann auf einer der Listen der Gebrüder Mougrabi.
Die Brüder haben sich auf den Weg gemacht, quer durch Ramtha, um nach „ihren“ Flüchtlingen zu schauen. Die Stadt selbst ist ein Flüchtlingslager – eines, das sich hinter Mauern und Stoff versteckt. Wo über einem Geschäftseingang ein verwittertes Schild Tischlerarbeiten anpreist, lugen Kinderköpfe durch die Vorhänge an den ehemaligen Schaufenstern. Die Werkstatt ist geschlossen. Hinter den halbhohen Mauern stillgelegter Baustellen stapeln sich Matratzen. Das Auto der Mougrabis stoppt an einer Mauer aus lose übereinandergestapelten Gasbetonsteinen. Hier wohnt der 65-jährige Abdullah Zori mit seiner Familie. Noal Zori, Abdullahs Frau füttert gerade die beiden erwachsenen behinderten Söhne. Als sie die Brüder Mougrabi den Raum betreten sieht, lächelt sie. „Und wenn ihr brav aufesst, dann kommen die Samis zu Besuch“, so macht sie den Jungs den nächsten Löffel Kichererbsenbrei schmackhaft. Abdullah Zori sammelt eifrig die verstreut liegenden Kissen vom Boden. Seit sechs Monaten lebt die Familie in Ramtha, außer den Kissen, Matratzen und Decken gibt es in dem Raum noch einen Trockenblumenstrauß und einen Fernseher. Abdullah Zori bewirtschaftete in Syrien einen weitläufigen Olivenhain und versorgte zwei Kühe, jetzt besitzt er noch ein Hemd und eine Stoffhose, glatt wie frisch gebügelt. Nur der Staub auf seinen Schuhen verrät, dass Zori manchmal die alte Sorgfalt vergisst. Er floh mit der Familie aus Syrien, als eine Vakuum-Bombe das Haus traf. Die Miete für den Unterschlupf in Ramtha bezahlen die Mougrabis – 230 Euro im Monat. „Gott möge für immer seine schützende Hand über euch beide halten“, sagt Abdullah Zori und lässt sich schwer schnaufend auf eine Matratze sinken.
Die Zeit der Mougrabis reicht gerade solange, bis der brühend heiße Tee in den Tassen lauwarm geworden ist. „Gibt es was Neues von den anderen Söhnen?“, fragt Haddsch Sami, der nun ebenfalls auf dem Boden hockt. Abdullah Zori schüttelt den Kopf. Ein Sohn sitzt im syrischen Gefängnis, der andere wird seit über eineinhalb Jahren vermisst. Wieder Haddsch Sami: „Werdet ihr satt?“ Zori nickt mit gesenktem Kopf. „Braucht ihr sonst irgendetwas?“ Zori schüttelt den Kopf. Dann fällt ihm doch noch etwas ein. Der Fernseher, auch ein Geschenk der Brüder. Er funktioniert nicht. Haddsch Sami fummelt einige Sekunden an der Steckdose rum, dann gibt er auf. „Wir kümmern uns darum“, ruft Doktor Sami dazwischen. Nach der Begrüßung sind es die ersten Worte, die er spricht. Er ist im Türrahmen stehen geblieben, den Tee hat er abgelehnt.
Man muss sich die Mougrabis als ein sehr ungleiches Brüderpaar vorstellen. Da ist Haddsch Sami, 62 Jahre alt, der Ältere der beiden. Er geht schnell auf Tuchfühlung, kann gut zuhören und noch besser reden. In den 70er Jahren wohnte er eine Weile in Offenbach und exportierte Autos nach Jordanien. In dieser Zeit hat er nur zum Spaß das Vaterunser auswendig gelernt, er sagt es noch heute stolperfrei auf. Ansonsten sind Haddsch Sami ein Bier und eine Wasserpfeife allemal lieber als ein Besuch in der Moschee. Das Beste an seinem Gesicht sind seine dunkelbraunen Augen, in denen auch immer ein Funke Traurigkeit liegt – und sein Lächeln, wenn er von seiner jüngsten Tochter spricht.
Wenn Doktor Sami versucht zu lächeln, verrutscht etwas in seinem Gesicht und heraus kommt eine bissige Grimasse. Als er zwölf Jahre alt war, geriet seine linke Hand in einen Fleischwolf, seitdem trägt er eine Prothese. Damit der Sohn trotzdem etwas aus seinem Leben machen kann, vermachte ihm der Vater den Laden, der damals noch vom schwunghaften Handel an der Grenze profitierte. Haddsch Sami, 49 Jahre alt, trägt zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit glänzende Anzüge. Und er hält das Handy manchmal noch am Ohr, wenn er sich auf seinen Gebetsteppich zu einem der täglichen Gebete niederkniet.
So unterschiedlich die Brüder sind, so gut ergänzen sie sich. Während Haddsch Sami sich noch die Fluchtgeschichten der Hilfesuchenden anhört, organisiert Doktor Sami schon. Er ist derjenige mit den Kontakten. Zu ihm kommen die Scheichs aus Kuwait und Saudi Arabien und vertrauen ihm ihre Spenden an. Er fährt zum Lager Zaatari und kauft dort für 16 Euro pro Person ganze Flüchtlingsfamilien frei, weil er den zuständigen Mitarbeiter gut kennt. Er verhandelt mit Bäckereien, der jordanischen Polizei und der Freien Syrischen Armee und organisiert so den nächsten Transport einer Wagenladung Backhefe über die Grenze. Und weil noch Platz ist, packt er zwei Kartons mit Blutplasma oben drauf. Und der Bruder Doktor Sami? Zu ihm kommen die Menschen in den Laden, um sich die Gebetskette entknoten zu lassen.
Hunderte Namen auf ihren Listen haben die Mougrabis schon durchgestrichen, weil sie für diese Flüchtlingsfamilien einen Spender gefunden haben, der sie regelmäßig mit Geld unterstützt. Vor einem Jahr ehrte ein Mitglied der jordanischen Königsfamilie Doktor Sami für seinen Einsatz für die syrischen Flüchtlinge und steckte ihm eine daumennagelgroße goldene Krone ans Revers. In einer Schublade im Laden liegt auch ein Dankesschreiben der UN. Doktor Samis lakonischer Kommentar: „Da hat wohl irgendjemand mitbekommen, dass wir versuchen, zu helfen.“ Als Haddsch Sami einige Tage später wieder bei Abdullah Zori vorbeischaut, läuft der Fernseher. Es hat sich nichts verändert. Immer noch: ein Sohn vermisst, der andere im Gefängnis. Abdullah Zori schaut syrisches Staatsfernsehen. „Alles Lügen“, sagt er. Aber diese Lügen in diesem Fernseher sind im Moment das Einzige, was ihn von der kaugummizähen Langeweile in Ramtha ablenkt. Vor einem Jahr hätte man in Nordjordanien noch viele Menschen wie die Brüder Mougrabi finden können. Menschen, die Flüchtlingen helfen und auch darüber reden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Das wird deutlich, wenn man einige Tage im Laden der Samis verbringt, den Kunden zuhört, die Fernsehnachrichten schaut und die Lokalzeitung liest. Von einer „unmöglichen Belastung“ ist die Rede. In einer Umfrage sprechen sich drei Viertel der Befragten für eine Schließung der Grenze aus. Sieben Syrer wurden festgenommen, weil sie ein Elektrogeschäft überfallen haben. Die Polizei zählt in der grenznahen Stadt Mafraq 170 Häuser, in denen Prostitution betrieben wird – von Syrern. Die Jordanier sagen, die Syrer arbeiten für einen Dinar die Stunde, sie nehmen ihnen die Arbeit weg. Für die Syrer gibt es jeden Tag Millionen Liter Wasser und bei den Jordaniern tropft es nur noch aus den Wasserhähnen. Die Mietpreise sind explodiert.
„Die Guten bleiben drüben, es kommen nur die Bauern und Analphabeten“, sagt ein Kunde in Doktor Samis Laden. Ein anderer stimmt zu: „Was wir brauchen, ist mehr Aids.“ Solche Sätze würde Achmed Agelan Omosch niemals sagen. Aber er sagt: „Wir sind nicht gegen die Syrer, die in ihrem Land für Freiheit kämpfen, aber wir sind gegen diejenigen, die hier unser Leben beeinflussen.“ Gemeinsam mit zwei Freunden hat Omosch in Mafraq einen Verein gegründet, der sich für ein Ende des Flüchtlingsstroms einsetzt. Er hat bei Demonstrationen gegen die Syrer schon Tausend Leute auf die Straße gebracht. Und als sein Vermieter in diesem Frühjahr die Miete von 75 auf 210 Euro erhöhte, gründete er zusammen mit 19 anderen betroffenen Familien das „Jordanian internal displaced Camp No 1“. Das heißt, er kaufte den Syrern zehn Flüchtlingszelte ab, stellte sie in Mafraq an den Straßenrand und zog ein. „Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land“, sollte das heißen. Das Camp wurde nach elf Tagen wieder abgebaut, nachdem der König höchstpersönlich seine Unterstützung zugesagt hatte. Achmed Agelan Omosch, Mitarbeiter der Gebietsverwaltung von Mafraq, fordert nun die Einrichtung einer Flugverbotszone in Syrien. „Auf diesem Gebiet können dann alle Flüchtlinge leben.“ Bis es soweit ist, macht er mit seinem Handy weiter Fotos von Flüchtlingen, die bei der Ausgabe von Hilfsgütern drängeln und ihren Kindern, die um fahrende Autos toben.
Je länger der Krieg in Syrien dauert, desto angespannter die Situation in Jordanien. Nicht nur der Leiter des UN-Flüchtlingslagers Zaatari beklagt die mangelnde Hilfe der internationalen Gemeinschaft. „Ich weiß nicht wie ich den Leuten hier erklären soll, dass es für mehr Matratzen eben nicht genügend Geld gibt.“ Schon früh im Jahr warnte Lakhar Brahimi, Sondergesandter der UN und der Arabischen Liga für Syrien, ein Kleinstaat wie Jordanien könne an einer derart gewaltigen Flüchtlingsbelastung zerbrechen. Ein paar Monate später legte Prinz Zeid, Jordaniens ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen, nach: „Die Situation wird für uns untragbar, wenn wir nicht mehr Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft bekommen“. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Jordanien mit den Flüchtlingen überlastet ist. Was überrascht ist, wie zwei Männer mit dieser Situation umgehen.
Im Geschäft der Samis gibt es ein neues Problem. Eine Frau hat sich gemeldet. Ihr Mann will sie zur Prostitution zwingen, so möchte so schnell wie möglich zurück nach Syrien. Die Brüder Mougrabi schauen sich nicht einmal an, als sie beginnen zu helfen. Haddsch Sami wählt am Telefon eine Nummer, weil er mit seinen beiden Händen geschickter ist. Dann übergibt er den Hörer an seinen Bruder. Der spricht ruhig, minutenlang, hält den Kopf schräg, blickt konzentriert ins Leere, lässt immer wieder neue Nummern wählen. Später am Abend, die Ladentür ist schon längst mit einem dicken Schloss verriegelt, erzählt Doktor Sami, wie alles angefangen hat. Zu Beginn der Syrienkrise seien sie zur Grenze gefahren und hätten einfach geschaut, ob jemand Hilfe gebrauchen könne. Ein paar Decken, ein warmes Essen, ein Busticket. Damals hatte niemand ahnen können, dass ein Krieg folgen würde. Und Doktor Sami konnte nicht wissen, dass er eines Tages so viel helfen muss, dass er manchmal seine Familie tagelang nicht sieht. Aber ein Zurück kommt nun nicht mehr in Frage. „Man kann doch nicht auf einmal aufhören zu helfen.“ Er wird sehr leise, wenn er über die Flüchtlinge spricht. Und er blickt zu Boden, als er sagt: „So viele Menschen, die Unterstützung erwarten. Natürlich lastet ein ungeheurer Druck auf unseren Schulden. Ich hoffe, Gott wird uns weiter die Kraft dafür geben.“
In jener Nacht brechen im Flüchtlingslager Zaatari Unruhen aus. Bei Protesten der syrischen Flüchtlinge werden 20 jordanische Polizisten verletzt, einer schwer am Kopf. In der Stadt Ramtha bleibt alles ruhig. Die Gebrüder Mougrabi sind endlich nach Hause gefahren. Und auch der Flüchtling Abdullah Zori und seine Familie schlafen auf den Matratzen in ihrem Unterschlupf. Um zwei Uhr nachts besteigt eine Frau einen jordanischen Polizeiwagen. An der Grenze wartet ein Posten der syrischen Armee auf sie, er wird sie in ihr Heimatdorf begleiten. Es ist die Frau, die vor der Zwangsprostitution flüchtet. Sie hat die Brüder Mougrabi nie kennen gelernt. Aber ihre geglückte Flucht hat sie zwei Brüdern aus einem Lebensmittelladen in Ramtha zu verdanken.