Vivario – Frieden in der Favela

BrasilienText von Tilman Wörtz
Fotos von Paul Hahn

Nirgendwo werden so viele Menschen erschossen wie in Brasilien, vierzigtausend allein im vergangenen Jahr. Direkt hinter Rios Traumstränden herrscht Krieg. Im Stadtteil Cantagalo, einst eine blutig umkämpfte Hochburg der Drogenmafia, ist es der Organisation Vivario gelungen, das Morden zu stoppen.

Stunde um Stunde hockt Eduardo am Fenster und starrt auf die Häuser und Hütten, die sich über den eiförmigen Hügel schachteln. Ein paar Gassen weiter, dort, neben dem Krämerladen, aus dem laute Sambamusik schallt, hat er sich oft mit Freunden getroffen, hat gekifft und vor den Mädels mit neuen Nike-Schuhen oder einer Pistole geprahlt. Und auf der Dachterrasse, einen Steinwurf entfernt, hat er vor dem Endspiel Brasilien/Frankreich die brasilianische Flagge an die Mauer gepinselt.

Noch bevor Brasilien das Endspiel verlor, lag er, der Siebzehnjährige, für immer flach. Eine Kugel durchtrennte die Nervenstränge seines Rückenmarks, als Polizisten wild um sich feuernd Cantagalo stürmten – die Reaktion auf einen Banküberfall im angrenzenden Reichenviertel Ipanema.

Fünf Jahre ist das her und seitdem hängen seine Beine reglos und verschorft an dem schmächtigen Körper. Ein Katheder führt aus verwaschenen Boxershorts unters Bett in einen Urinbeutel, daneben einige Packen Windeln. Kein Buch auf dem Nachttisch – lesen kann er nicht – nur ein voller Aschenbecher. „Ich hab´ Glück gehabt“, nuschelt Eduardo. Fast alle seine Kumpel wurden erschossen, darunter sein bester Freund Jolo, den ein konkurrierender Kokaindealer umgelegt hat. Vor zwei Jahren erwischte es gleich vier seiner Freunde auf einmal. Auch sie Drogendealer. „Man fand sie auf einer Dachterrasse, Nackenschuss“, sagt Eduardo, Polizisten hatten kurzen Prozess mit ihnen gemacht. Von seinem Zimmer aus konnte er die Randale der Nachbarn hören, die den Hügel ins Reichenviertel hinabstiegen, Autos in Brand steckten, Fenster einschlugen und Geschäfte plünderten.

Dass es sich nach all den Toten wieder halbwegs friedlich in der Armensiedlung Cantagalo leben lässt, ist der Organisation Vivario zu verdanken, die vor zehn Jahren antrat, die Gewalt in Brasiliens Städten einzudämmen. Anlass war auch damals ein Massaker, das Polizisten an Straßenkindern vor der Kirche Candelaria verübt hatten, beauftragt und bezahlt von Geschäftsleuten, die sich durch die bettelnden Kinder vor ihren Schaufenstern gestört fühlten.

Der Kindermord von Rio weckte das Gewissen von Wissenschaftlern, Unternehmern, Künstlern, Journalisten und Politikern, die Strategien gegen die wachsende Zahl von schießwütigen Polizisten und Kriminellen entwickelten. Heute verfügt die Organisation über tausend bezahlte Mitarbeiter und dreitausend freiwillige Helfer, die mehr als fünfhundert Projekte in 354 Favelas betreibt, darunter Sportprogramme für 300.000 Kinder, Schulabschlüsse für 25.000 Jugendliche und Aktionen, bei denen 100.000 illegale, von der Polizei konfiszierte Waffen öffentlich mit einem Bulldozer zerstört wurden.

Um in Cantagalo Frieden schaffen zu können, so das Kalkül von Vivario bei Projektstart vor zwei Jahren, müssten alle bisher getesteten Projekte mit einem Schlag auf die neuralgischen Punkte der Favela wirken: Polizei, Jugend, Recht, Kultur und Politik.

Die Polizei

Polizeistation XI, Cantagalo. Sargent Vidal, 34, tritt vor seine Männer aus dem 16. Bataillon der Militärpolizei. Ihre Schnellfeuergewehre M-16 haben sie auf Stühlen abgelegt, nicht aber die schusssicheren Westen und Pistolen. Sie blicken gespannt auf ihren Commander. Sargent Vidal lispelt, hat ein Bäuchlein und einen großen Pickel auf der Nase. Er schaltet den Fernseher ein, auf dem Bildschirm erscheint eine treppenförmige Grafik, die besagt, dass sich Konflikte nicht nur mit dem Schießprügel, sondern auch verbal lösen lassen.

„Die nächste Stufe ist die Androhung von Gewalt, erst dann kommt die höchste Stufe des Konflikts: die Gewaltanwendung“, lispelt Sargent Vidal. „Habt ihr das verstanden?“ Ein bulliger Polizist mit Bürstenschnitt malmt auf seinem Kaugummi und brummt: „Wenn’s richtig brenzlig wird, kann ich doch nicht erst lange diskutieren!“ Sargent Vidal ist auf die Frage vorbereitet: „Wenn du selbst in Gefahr bist, darfst du schießen. Doch ein Rückzug kann die bessere Alternative sein, besonders wenn unschuldige Menschen durch eine Schießerei gefährdet werden.“

In der letzten Reihe sitzt die Soziologin Veronica dos Anjos und nickt zustimmend. Sie hat im Auftrag von Vivario Sargent Vidal und fast 4.000 seiner Kollegen in zahlreichen Kursen die „Verbesserung der Bürgernähe in der polizeilichen Praxis“ ans Herz gelegt. Nun prüft sie, ob Vidal sein Wissen richtig weitergibt. Vidal hat seine Lektion gelernt „Denkt dran: Nur zwei von Hundert aller Bewohner in den Favelas stecken im Drogenhandel! Die große Mehrheit versucht, sich ebenso anständig durchzuschlagen wie ihr auch,“ mahnt er und schickt seine Leute auf Streife. Die führt von der Station ein steiles, kurviges Sträßchen aus Kopfsteinpflaster hinab. Aus dem Gassengewirr steigen Leuchtraketen in den Himmel: Die Warnung der Späher an die Drogendealer, dass Polizei unterwegs ist.

Seine alte Einheit mied die zwielichtigen Ecken ihres Reviers, stürmte sie nur, wenn zwischen zwei Fraktionen der Drogenmafia heftige Schießereien entbrannten oder Bürger in den angrenzenden Vierteln der weißen Mittelschicht durch Raubüberfälle verunsichert wurden. Drogendealer lauerten auf den Dächern und beschossen die Polizisten, sobald sie einrückten. Seitdem kennt er das Gefühl, auf offener Straße als lebende Zielscheibe mit der Aufschrift „Policía“ zu dienen. Oder in einen Hinterhalt zu geraten. In seiner rechten Kniekehle hat´s ihn einmal erwischt. Wenn Vidals Einheit sich ins Innere der Favela vorgekämpft hatte, gingen die Dealer in Deckung und warteten, bis die Polizisten wieder abgezogen waren. Dann begann das Spiel von neuem.

In Cantagalo schiebt Vidal dagegen mit 16 Polizisten auf vier Posten Tag und Nacht Wache. Das kostet die Stadt zwar mehr Geld, aber spart Leben. Ihr Auftrag lautet: Präsenz zeigen, Teil der Gemeinde werden, um Verbrechen zuvorzukommen und nicht erst auf Notruf reagieren zu können. „Community Police“ nennt Vivario dieses Konzept, ein Ideenimport aus den USA, für den Vivario-Chef Ruben Cesar Fernandez vor zwei Jahren die Stadtregierung von Rio de Janeiro gewinnen konnte.

Auf Vidals Schreibtisch liegt eine Beschwerde: die Bergbahn funktioniere manchmal nicht, deshalb hingen viele Jugendliche lieber auf der Straße rum, als in die Schule zu gehen. Sargent Vidal hat die Reparatur der Bahn von der Stadtverwaltung gestern schon eingefordert. Nun schlendert er mit etwas Abstand der Patrouille hinterher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, das Bäuchlein nach vorn gereckt. Er löst in einer engen Kurve einen Verkehrsstau und begrüßt zwei vorbeigehende Schüler, denen er Klassen über „Bürgerkunde“ und „ansteckende Sexualkrankheiten“ gehalten hat.

„Seit wir hier sind, hat es keinen Mord mehr gegeben. Die Spielregeln haben sich geändert“, sagt er. Einen Schönheitsfehler in den Spielregeln muss er allerdings zugeben: „Den Drogenhandel können wir nicht unterbinden. Dahinter steckt zuviel Geld. Wir können nur die Gewalt eindämmen, die von den Dealern ausgeht.“ Vor zwanzig Jahren kam das Kokain von Kolumbien nach Brasilien, um nach Europa weiterexportiert zu werden. Die Favelas eignen sich perfekt als Zwischenlager, weil sich der Staat lange Jahre nicht um die Armensiedlungen gekümmert hat: keine Polizei, keine Gerichte, keine Kanalisation, keine Krankenhäusern, keine Müllabfuhr, schlechte Schulen.

Die Jugend

Kaum einer schenkt der vorbeimarschierenden Patrouille Beachtung. Eine Mutter hängt Wäsche aus dem Fenster, während ihre Kinder auf der Straße Ball spielen, Händler in Holzbuden bieten Reis und Bohnen, Bonbons, Salzgebäck, Schnaps oder Plastikspielzeug feil. Es riecht nach Fisch und faulendem Obst, Trommelmusik dröhnt aus den Boxen eines Kassettenrekorders, ein paar Männer hocken auf einem Mäuerchen und werfen Brausetabletten in eine Colaflasche. Douglas Rufino, 21, ist dran. Er schaut gelangweilt zu, wie der Schaum überquillt. Zwei seiner Freunde riechen nach Alkohol, alle vier sind arbeitslos.

Über seinen nackten Oberkörper spielen Muskeln, als er aufsteht und den steilen Weg unter rhythmischem Klatschen seiner Badelatschen hinaufgeht. Nach den Statistiken von Vivario zählt Douglas zur „höchsten Risikogruppe“: „Männlich, zwischen 14 und 25 Jahre alt, kein Schulabschluss“. 1,3 Millionen Einwohner des Bundesstaates Rio de Janeiro haben die achtjährige Schulpflicht nicht abgeschlossen und damit erheblich schlechtere Aussichten, einen Job zu bekommen.

Von diesen Statistiken weiß Douglas nichts, aber er kennt das Leben dahinter. Die Freunde, die er gerade zurückgelassen hat, fordern ihn manchmal auf: „Komm, lass uns einen Überfall machen!“ Gelegentlich ist er ihnen den Hügel in die Stadt hinunter gefolgt. Eine Sauangst hatte er da, aber es sind nun mal seine Freunde, mit denen er auch am Strand abhängt oder Fußball spielt.

Douglas will nicht mehr mitmachen, fragt lieber in den Geschäften, ob sie einen Job für ihn haben, anstatt sie zu überfallen. Haben sie aber nicht. Ohne Beziehungen läuft nichts. Seine Mutter legt jetzt ein gutes Wort für ihn in einer privaten Sicherheitsfirma ein, die sie täglich putzt. Ob die ihm vertrauen, bei seiner Adresse?

Seine beste Zeit hatte er beim Militär. Da gab´s Disziplin. Douglas arbeitete schon als 14-jähriger im Lager eines Gemischtwarenladens, um seine Familie zu unterstützen. In seiner Freizeit trainierte er Jiu-Jitsu bis zu Perfektion, die verschwollenen Ohren sind der Beweis. Er wollte sich bei der Armee verpflichten. Aber das wollen viele. Ohne Schulabschluss sind seine Chancen so groß wie die Fleischstücke in seiner Feijoada am Freitag Nachmittag.

Douglas latscht an der Polizeistation vorbei zu einem Gebäude aus Beton und Glas, das sich in großem Bogen an den Hügel, den „Morro“ schmiegt, hoch über Rio de Janeiro. Der Bau sollte einmal das „Hotel Panorama“ werden, mit weitem Blick über Meer, Granitfelsen und den Strand von Ipanema. Zur benachbarten Favela gab es keinen Ausgang. Die Gäste sollten das Hotel in einem Aufzug erreichen, der ganze dreißig Sekunden Fahrtzeit braucht vom Einstieg in Ipanema bis zum Ausstieg auf dem Morro. Doch die Bauherren machten Bankrott. Die Stadt konfiszierte das Gebäude und gab es dem Morro zurück.

Jetzt besitzt das „Hotel Panorama“ einen breiten Eingang, der sich zur Favela hin öffnet. In den oberen zwei Stockwerken lernen die Kinder aus Cantagalo Rechnen und Schreiben, die beiden Stockwerke unter der Grundschule bezog Vivario. Kinderstimmen mischen sich im Hall der Gänge mit Befehlen eines Tanzlehrers und dem „Tik-Tok“ von Tischtennisbällen. Jugendliche spielen Volleyball auf der Terrasse, die ein Netz umspannt, damit der Ball nicht in die Tiefe springen kann. Nebenan trillert eine Pfeife, Körper klatschen ins Wasser und schwimmen um die Wette. Allen zur Seite stets ein Erwachsener im blauen T-Shirt mit der Aufschrift „Professor“. Vivario hat die Sportlehrer eigens eingestellt, um Jugendliche und Kinder in ihrer Freizeit vor Dummheiten zu bewahren wie sie Douglas und Eduardo begangen haben. Zweitausend kommen jeden Tag.

Douglas latscht den Gang entlang, der in die Bibliothek führt. Edvis, 15, und Camila, 14, sitzen mit Lehrerin Anna-Paula um einen Tisch und schneiden Fotos aus Reiseprospekten über Norwegen aus, kleben sie auf ein großes Blatt Papier und schreiben an den Rand, was sie über dieses seltsame Land der Trolle und bunten Holzhäuser erfahren haben. In einer Woche kommt sogar der König aus Norwegen zu Besuch, um sich die Projekte im Hotel Panorama anzuschauen. „Prince Charles war schon vor ihm da,“ sagt Camila trotzig, weil sie keine Lust mehr zum Schneiden hat. Sie will lieber an einem der 32 Computer im Internet surfen, die Vivario von der brasilianischen Post geschenkt bekommen hat.

Douglas geht eine breite Treppe hinunter in sein Klassenzimmer, verstaut seinen Rucksack unterm Sitz und wartet, bis der Mathematik-Lehrer den Unterricht beginnt. Die Bücher und Filme über Geschichte, Literatur oder Geographie stellt Vivario. „Länge mal Breite gleich Fläche“ notiert Douglas. Furchen auf seiner Stirn verraten, wenn er die Linien in seinem Heft nicht versteht. Er will unbedingt die Prüfung in zwei Monaten bestehen, um sich mit dem Zeugnis bei Firmen zu bewerben, „egal für was“.

Die „Stellenbörse“ von Vivario hat seinen Lebenslauf im Computer abgespeichert und vergleicht seine Daten regelmäßig mit Stellenanzeigen aus den Zeitungen. Passt eine Anzeige, vermittelt Vivario den ersten Kontakt. Über Vivario vermittelt zu werden, gilt als Referenz in Rio. Schließlich sitzen viele namhafte Unternehmen, Medienleute, Politiker und Wissenschaftler im Verwaltungsrat der Organisation.

Das Recht

Douglas hat sich auch bei Vivario selbst beworben. Die vielen Projekte im Hotel Panorama haben ihn allerdings so verwirrt, dass er sein Bewerbungsformular an der falschen Stelle einreichte. Ausgerechnet im winzigen „Rechtsbüro“, das man nur über einen engen Gang und zwei Treppen tief im Inneren des Betonkolosses erreicht.

In Cantagalo hat sich rumgesprochen, dass dort Leute sitzen, die Konflikte ohne Waffen lösen. Auf der Bank vor dem Büro wartet ein Dutzend Menschen, denen die Sambalaune aus dem Gesicht gefallen ist. Der Raum hinter der Holzwand ist der einzige in Cantagalo, in dem Gesetzesbücher im Schrank stehen, wenn auch reichlich abgegriffene Exemplare.

„Der Nächste“, ruft die Jurastudentin Taiana Felix, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin von Vivario. Eine junge Frau mit filigran geflochtenen Zöpfen, großen Augen und einer knubbeligen Nase drängt herein. Mit etwas Abstand ihr Bruder: kurzes Kraushaar, Zahnlücke, ebenfalls knubbelige Nase. Die Schwester platzt vor Zorn: „Ich halt´s nicht mehr aus mit denen im Haus, diesen Drecksäuen, da kommt jetzt eine Wand rein und die zahlen die! Und wenn die noch mal drohen, mich umzubringen, dann verpfeif‘ ich sie bei der Polizei! Säufer!! Kokser!!!“ Der Bruder brummelt mit alkahollahmer Stimme zurück. Taiana ermahnt zur Ruhe, vergebens.

Doch Taiana lässt nicht locker, sie weiß, wie wichtig eine Einigung der Geschwister ist. Vielleicht hat eine Seite gute Kontakte zu einem Drogenhändler, der eines Tages den Konflikt auf seine Weise löst. Das Schema dieser Schlichtungstechnik ist immer gleich: Erst Drohen, dann Prügel, dann ein Schuss ins Bein – und wenn’s dann immer noch Ärger gibt – in den Kopf.

Ortstermin im Haus der Geschwister. Die Schwester braucht Taiana nicht zu erklären, in welchem Teil sie lebt: sauber gestapeltes Geschirr in der Spüle, blitzblank geputzte Fliesen, Keramikfiguren und Blumenvasen im Schrank weisen ihre Zone aus. Die der Brüder: Grünspan und Ruß auf dem Kühlschrank, verdreckte Bodenplatten, alte Kabel und Decken in den Ecken.

Die Schwester zittert am ganzen Leib und schießt eine Schrotladung des Zorns auf ihre Brüder ab. Die grummeln zurück, Taiana braucht eine halbe Stunde, um sich Gehör zu verschaffen. Sie schlägt vor, das Wohnzimmer mit einer Zwischenwand zu teilen, und für die Brüder einen zweiten Eingang auf der Rückseite zu schaffen. „Ein Gerichtsverfahren dauert lange und kostet viel mehr als eine Mauer“, erklärt sie der immer noch wutbebenden Schwester. „Sie haben schon den Krämerladen ihrer Mutter geerbt und können nicht alles haben.“ Immer noch keine Reaktion. „Bauen Sie die Mauer und Sie müssen Ihre Brüder nicht mehr sehen.“ Jetzt gibt sich die Schwester einen Ruck und unterschreibt den Schlichtungsvertrag. „Ob der hält, wissen wir nicht,“ sagt Taiana. „Doch oft reicht eine neutrale Stimme der Vernunft, um verhakte Streithammel auseinander zu bringen.“

Die Kultur

Nichts davon steht Tags darauf in der Internetzeitung „Vivafavela“. Die Korrespondentin in Cantagalo, Rita de Cássia, 40, hat ihre strikten Kriterien, nach denen sie ihre Themen auswählt. Sie jagt im schwarzen Kleid und großvolumig geföhnter Frisur im „Beauty-Salon Regenbogen“ nach Geschichten. Der breitschultrige Chef kommt ins Schwitzen und kratzt sich das Tattoo am Oberarm, als Rita ein Aufnahmegerät vor seine Lippen hält. „Welche Frisuren bevorzugen ihre Kundinnen?“ Anfangs stockend, dann immer redseliger erzählt der Friseur von Dauerwellen, Reflex-Behandlung und „Mega-Hair“ – künstlichen Strähnen für 10 Euro das Stück, die am Rahmen eines großen Spiegels hängen mit der Aufschrift „Eigentum von Jesus Christus“.

„Ich schreibe über unsere Würde und die Gefühle, die wir im Herzen tragen,“ versichert Rita dem Friseur. Auf Romantik versteht sie sich. Schon mit dreizehn Jahren schrieb sie stellvertretend für Analphabeten Liebesbriefe. Der Friseur pflichtet ihr bei: „Die großen Zeitungen der Stadt schreiben nur über Morde und Drogen in den Favelas. Unser Alltag interessiert die nicht. Wir sind nur Kriminelle für die, keine Menschen.“

Eine gedruckte Zeitung gibt es in Cantagalo nicht, das wäre zu teuer. Die Internetzeitung Vivafavela hat der Friseur zwar noch nie gelesen, aber schon viel über sie von Bewohnern gehört, die regelmäßig an den Computern im Hotel Panorama durchs Internt surfen.

Rita reicht ihm die Mappe mit ihren gesammelten Artikeln: über den ersten Transvestiten von Cantagalo und über Hilfe unter Nachbarn, über das Fußballturnier vergangene Woche und über eifersüchtige Frauen. „Die war erst gestern hier“, freut sich der Friseur und zeigt auf das Foto einer jungen Frau, die im Artikel bekennt, ihren Freund allein deshalb geschlagen zu haben, weil er mit einer anderen Frau geredet hat. Der Friseur weiß viel mehr über sie, als in dem Artikel steht. Zum Beispiel dass sie prima rappt und boxt. Aber dass eine Zeitung über sie geschrieben hat …Toll!

Rita muss sich sputen, in einer Stunde ist Redaktionssitzung in der Zentrale von Vivario. Im Aufzug des Hotels Panorama schwebt sie aus der armen Welt auf dem Morro nach Ipanema, 26 Stockwerke tiefer, wo Luxuskarossen vor dem Palace Hotel vorfahren, Gitter aus Gusseisen Video überwachte Wohnblocks abschirmen, jeder mit Portier und Sitzecke vor dem Aufzug.

An der „Avenida Vieira Souto“ direkt am Strand steigt Rita in den Bus, fährt an der Copacabana vorbei bis ins Zentrum von Rio zur Villa Venturoza, einem weißen Kolonialgebäude mit Fensterläden aus dunklem Holz und schmiedeisernem Eingangstor. Am Empfang sitzen drei Damen und leiten Anrufe an die 300 Mitarbeiter in die Großraumbüros gleich dahinter weiter. Tasten klappern, ständig klingelt das Telefon, eine französische Künstlerin erklärt gestenreich, wie sie die Christusstatue auf dem Corcovado-Hügel blau anleuchten will: „La couleur du paix“, „die Farbe des Friedens!“ schwärmt sie.

Die Korrespondenten, Fotografen und Redakteure von Vivafavela versammeln sich um den Tisch im Besprechungszimmer. „Welche Themen haben wir für morgen?“ fragt die Chefredakteurin Cristiane Ramalho, 40. Sie hat zwanzig Jahre lang für alle großen brasilianischen Zeitungen und Zeitschriften geschrieben. Nun will sie die Favelas ins digitale Zeitalter integrieren. „Die Bewohner brauchen nicht nur Essen und Medizin, sondern auch Information und gute Unterhaltung,“ sagt sie. Die Comic-Figur Cambito, ein Junge mit Schildkappe bis über beide Ohren und dem Traum, eines Tages Armut und Gewalt der Favelas entfliehen zu können – hat eine stetig wachsende Fangemeinde, auch in den weißen Reichenvierteln. Das lässt sich am Stil der Leserbriefe erkennen. Über 12.000 Menschen besuchen jeden Tag die Website von Vivfavela.

„Durch das Internet sollen der arme und der wohlhabende Teil Rios, die Favelas und der ‚Asphalt‘ zusammenwachsen“, sagt Cristiane Ramalho. Die Tageszeitung „O Dia“ druckt regelmäßig Artikel der Vivafavela-Korrespondenten, ein Dutzend Medienleute ruft jede Woche bei Cristine Ramalho an, um Information aus den Favelas zu bekommen, selber trauen sie sich nicht rein. Als Polizisten vor einigen Monaten vier Unschuldige für Dealer hielten und erschossen, erzwangen die Berichte von Vivafavela die Bildung einer Untersuchungskommission im Ministerium für Menschenrechte. Schließlich griffen auch die großen Medien das Thema auf.

Rita schlägt der Redaktion die Geschichte über die Beauty-Salons vor. „Beschränk‘ dich auf einen oder zwei Läden“, mahnt die Chefredakteurin. „Letzte Woche haben wir einen Artikel über ein Fußballspiel mit 22 Zitaten bekommen, von jedem Spieler eins, und fast alle haben das Gleiche gesagt.“ Es gebe aber viele schöne Salons, hält Rita dagegen. Schließlich willigt sie ein, überprüft das Volumen ihrer Frisur und sagt: „Ihr kürzt mir zuviel. Ich schreib‘ bald ein Buch. Über die schönste Favela der Welt!“

Die Politik

Eine dunkle Holztreppe führt in den zweiten Stock der Villa Venturoza, in dem Veronica dos Anjos ihren Bericht über die letzte Polizeischulung tippt und die Koordinatoren der Rechtsbüros die Fälle der vergangenen Woche auswerten. Sponsoren erwarten eine gute Dokumentation der Aktivitäten. Im Séparée der Abteilung „Entwaffnung“ herrscht dagegen Stille. Die braucht der Chef-Lobbyist von Vivario, Antonio Bandeiras, 58, wenn er Kongressabgeordnete für eine Verschärfung des Waffengesetzes gewinnen will und nicht ohnehin in der Hauptstadt Brasilia an ihre Türe klopft.

Seine graue Mähne fällt lässig nach hinten, ohne zu zerzausen. Mit ruhigem Griff zieht er eine Studie aus dem Schrank: „Ein Drittel der beschlagnahmten illegalen Waffen wurden einst legal erworben und dann auf dem Schwarzmarkt verkauft, die meisten stammen aus brasilianischer Produktion. Wenn wir die Quelle kontrollieren, gelangen auch weniger Waffen in die Hände der Drogendealer“.

Zwei Jahre lang haben Antonio Bandeiras und seine Leute zahllose Revolver und Gewehre in den Depots der Polizei untersucht, Seriennummern aufgeschrieben und mit den Waffenscheinen verglichen. Eine bisher einmalige Aktion, denn keine andere Stadt in Brasilien außer Rio de Janeiro hat sich in die Waffenkammer schauen lassen.

Für jede Klientel hat Antonio Bandeiras die richtige Studie parat. „Fast achtzig Prozent der Bevölkerung will, dass Zivilpersonen verboten wird, Waffen zu tragen.“ Das stimmt Politiker nachdenklich, die bisher davon ausgingen, dass die meisten Brasilianer Waffennarren seien. Die Wirtschaft, die immerhin fast die Hälfte aller Spendengelder für Vivario aufbringt, überzeugt vor allem die Kosten-Nutzen-Rechnung der Gewaltprävention: „Acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Rio de Janeiro werden für Sicherheitsausgaben aufgewandt, allein der private Sektor in Brasilien investiert zwanzig Milliarden Euro, doppelt soviel wie der öffentliche.“ Nicht zuletzt deshalb sind der Ölriese Petrobrás und der brasilianische Industrieverband mit insgesamt einer Million Euro im Jahr die größten Einzelspender von Vivario.

Zahlen sind die Munition in Antonio Bandeiras Kampf gegen die Waffenlobby, die nach seinen Informationen Abgeordnete im Kongress besticht. Doch sein bestes Argument ist nach wie vor sein Leben: „Ich weiß, welche schlimmen Folgen der Gebrauch von Waffen haben kann.“ Als Guerillero kämpfte er gegen die Militärdiktatur in Brasilien, kam im chilenischen Exil Präsident Allende als Berater zu Hilfe und erlebte dessen gewaltsamen Sturz. Erst in Kanada fühlte er sich als Professor für Politik wieder sicher.

Nach zwanzig Jahren kehrte er als Regierungsberater in ein anderes Brasilien zurück, wo sich der ehemalige Untergrundkämpfer fürchtete, nachts durch die Straßen der Hauptstadt zu laufen. „Die Waffen und die Gewalt sind mit dem Kokain gekommen. Waffen ändern die Natur eines Konflikts. Ohne sie wäre die Mordrate niedriger. Also müssen wir ihren Erwerb erschweren.“

Sein Handy klingelt, langsam kramt er es aus der hellen Leinenhose: „Ja, nächste Woche der Protestmarsch in Arancaju … Wir hoffen, dass TV Globo wieder mitmacht wie in Rio.“ Der Drehbuchautor der beliebtesten Seifenoper Brasiliens, „Leidenschaftliche Frauen“, hatte einen Hauptdarsteller während einer Schießerei durch einen Querschläger sterben lassen und wollte nun zeigen, wie die Freunde des Toten auf einer Kundgebung gegen Waffenbesitz einen Protestmarsch von Vivario begleiten.

„Wir haben den Marsch organisiert“, schwärmt Antonio Bandeiras und bekommt ein leichtes Vibrato in seinen sonst so festen Bass. An die siebzig Millionen Zuschauer – aus den Reichenvierteln und Favelas gleichermaßen – sahen in der nächsten Folge von „Leidenschaftliche Frauen“, wie trotz Nieselregen 50.000 Demonstranten auf der Copacabana aufmarschierten, Schauspieler Schulter an Schulter mit echten Opfern von Querschlägern, die heute im Rollstuhl sitzen oder auf Krücken humpeln und Transparente mit den Forderungen von Vivario hochhielten.

Update Frühjahr 2009

Konflikt:

In Rio de Janeiro werden nach wie vor rund 2000 Menschen im Jahr ermordet. Die Zahl der Polizisten, die im Dienst umkommen, verdoppelt sich sogar jedes Jahr. Die Polizei ihrerseits erschießt jeden Tag drei Menschen. Eine Deeskalation der Gewalt zwischen Drogenmafia und Polizei und den Banden untereinander ist nicht in Sicht.

Projekt:

Die Stadtregierung setzt weiter auf eine harte, blutige Strategie im Kampf gegen die Drogenmafia. Die Organisation Viva Rio, über die wir berichteten hält den Hardlinern wacker die Erfolge der Community Police entgegen, die einen wirksamen Schutz in der Favela Cantagalo aufrechterhalten konnte und mittlerweile in elf weiteren Stadtbezirken patrouilliert. Doch es bleiben Pilotprojekte. Die Vorteile dieser „weichen“ Linie ist nicht mal der Bevölkerung zu vermitteln. Auch die Lobbyarbeit im Kongress um eine Verschärfung des Waffengesetzes brachte letztlich nicht den erwünschten Erfolg. Das „Konfliktschlichtungsbüro“ dagegen hat sich als Modell durchgesetzt und wird heute von der Stadtregierung in Rio weitflächig eingesetzt. In der Bevölkerung gewinnt die Website Viva Favela an Beliebtheit. Vor sieben Jahren gegründet, wird sie heute jeden Monat von 80.000 Menschen in Rio besucht – nicht nur von den Armen, auch weiße Mittelschicht-Kids klicken auf Modetipps oder Fotos über die letzte Sambanacht in der „Cidade de Deus“ (Stadt Gottes). Dem Open Society Institute aus New York war die Internetseite 2005 die Auszeichnung mit seinem Preis für engagierte Fotografie wert.

www.vivario.org.br