Die Rückkehr der Wüstenritter

MaliText von Uschi Entenmann
Fotos von Uli Reinhardt

Am 4. Oktober 1994 wurde Jean Claude Berberat in Mali erschossen. Der Schweizer Konsul war zwischen die Fronten des Bürgerkriegs geraten und von der Regierung verdächtigt worden, mit den rebellierenden Tuareg unter einer Decke zu stecken. Berberat ist eines von tausenden Opfern eines Konfliktes, der noch heute andauern würde, hätten nicht zwei Deutsche und ein Tuareg die Kriegstreiber an einen Tisch gezwungen. Motto: Geld gegen Friede. Das Konzept wirkt. Seit zehn Jahren.

Seit Stunden schon hocken sie unterm Zeltdach und palavern. Bärtige Kerle in wallenden Gewändern, die Gesichter bis auf einen Spalt um die Augen unter dem Turban verborgen. Der eng um den Kopf gewickelte Baumwollschal schützt vor dem Sand, der durch den Hangar weht und verbirgt jede Regung, die sich auf den Gesichtern zeigen könnte. Misstrauen? Ärger? Angst? Die Stimmung scheint eher gelöst. Ein Junge zupft kratzige Akkorde auf einer Gitarre, die der Wüstenwind abgeschmirgelt hat. Frauen huschen herein, stellen Schüsseln mit Hirse und Lammfleisch in die Mitte des Zelts. Ein Festmahl unter Freunden wird angerichtet, so scheint es.

Gastgeber Yehia Ag Mohammed Ali, ein massiger Kerl um die vierzig, der als einziger sein Gesicht nicht verhüllt hat, mischt mit bloßen Händen die Hirse unter das Lammfleisch und lädt zum Essen ein. Die Männer greifen zu, während er sie aus den Augenwinkeln fixiert, den kahl geschorenen Kopf einem Gast entgegen neigt, der ihm ein paar Worte ins Ohr raunt. Ein kurzes Nicken, ein Wink mit der Hand, die einem anderen Gast das Wort erteilt, so springt das Gespräch fast beiläufig von einem zum anderen. Keiner erhebt die Stimme, dennoch registriert jeder jede Geste und Nuance. Kein Wunder, denn in dieser Runde sitzen Männer vom Nomadenstamm der Tuareg den Männern vom Stamm der Songhai gegenüber, ehemalige Todfeinde. Die hellhäutigen Tuareg fühlen sich seit Jahrhunderten als Herren der Sahara, die tiefschwarzen Songhai waren seit jeher sesshaft.

Nur an den Ufern des Niger lohnt sich der Ackerbau

Mali ist nackt. Eine Gegenwelt aus Dünen und Dornengestrüpp auf fast der doppelten Fläche Deutschlands. Nur an den Ufern des Niger, der einen weit verzweigten Bogen in die Sahelzone schlägt, lohnt sich der Ackerbau. Vier Fünftel der Bevölkerung leben von der Landwirtschaft, zwei Drittel des Landes ist Wüste. Umso heißer begehrt und umkämpft sind die grünen Areale. Überleben kann nur, wer Zugang zu den spärlichen Wasserressourcen hat und sei es um den Preis eines Krieges. Massaker, Überfälle, Flucht – nichts blieb den Menschen erspart. Bis die Papendiecks kamen.

Henner und Barbara Papendieck, 62 und 60 Jahre alt, brachten beste Voraussetzungen für die gute Sache mit. Der Ökonom und die Soziologin kannten sich mit den Traditionen afrikanischer Länder aus, seitdem sie in den achtziger Jahren sechs Jahre in Ghana gelebt und danach in Diensten der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) eine Reihe anderer afrikanischer Länder bereist hatten. Henner Papendieck hatte allein fünfmal Mali besucht und dabei das Land und seine Probleme kennen gelernt. 1994 kamen sie gemeinsam, dieses Mal mit achtzehn Millionen Euro, die ihnen die GTZ und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) anvertraut hatte. Im Laufe der Jahre investierten sie fünfundfünfzig Millionen Euro. Eine stattliche Summe, „aber mit Geld allein“, betont Henner Papendieck, „kannst du in diesem heillos zerstrittenen Land keinen Frieden stiften.“

Die Situation, die sie vorfanden, schien hoffnungslos: Seit fünf Jahren herrschte Krieg zwischen Regierung und Rebellen, mehrere Dürreperioden hatten die Weiden verbrannt. die Rinder der Tuareg waren in Massen verdurstet, mit den Hilfsgeldern der internationalen Gemeinschaft bauten sich Regierungsbeamte in der Hauptstadt Bamako stattliche Villen. „Da sind Milliarden versickert“, sagt Papendieck, „im Norden ist von dem Geld wenig angekommen!“

Die Rebellen plünderten Armeedepots und überfielen Gendarmerieposten

Die Rebellen waren junge Söldner, die meisten frustrierte junge Tuareg, die bei Gaddhafi in Lybien ihr Mordhandwerk gelernt hatten. „Sie waren chancen- und perspektivlos, besaßen nichts und hatten nichts zu verlieren“, erklärt Papendieck. Sie plünderten Armeedepots und überfielen mit den erbeuteten Waffen Gendarmerieposten, lieferten sich Gefechte mit Armee und Polizei, „sie attackierten alles, was den Staat symbolisiert.“ Eine Verzweiflungsaktion. Tausende starben, Hunderttausende flohen.

„Eine halbe Million Menschen waren von diesem Krieg betroffen,“ klagt Papendieck. Keiner, weder Söldner noch korrupte Regierung, konnte den Krieg gewinnen. Auf Drängen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und des Nachbarlandes Algerien, das fürchtete, dass der Konflikt über die Grenzen dringen könnte, hatte man ein Friedensabkommen getroffen. Es sah vor, die Rebellen für die Armee zu rekrutieren und versprach den Tuareg, selbstständig den Norden zu verwalten.

Es kam wie es kommen musste: die Armee sperrte sich gegen die Mehrheit der ehemaligen Rebellen, von denen viele daraufhin wieder das Land unsicher machten. Kurz nach ihrer Ankunft in Mali erlebten die Papendiecks die nächste Gewaltexplosion. Ex-Rebellen verließen die Kasernen und zogen marodierend durchs Land, die sesshaften Songhai gründeten eine paramilitärische Miliz und kämpften gegen die Tuareg. „Wir waren gekommen, um den Friedensprozess zu unterstützen, stattdessen ging im Juni 94 der Krieg wieder los.“

Die Papendiecks zogen in die wüsten Provinzen des Nordens

In dieser Situation blieb ihnen nur die Flucht nach vorn. Die Strategie stand deshalb für die beiden von Anfang an fest: Sie ließen die bequeme und halbwegs sichere Residenz in der Hauptstadt Bamako schon nach sechs Monaten links liegen und zogen in die wüsten Provinzen des Nordens, „dahin, wo´s wehtut“, fuhren im Schutz von Militärpatroullien durch ein Niemandsland voller zerstörter Dörfer und landeten in der ländlichen Kleinstadt Léré, aus der zwei Drittel der Bewohner geflohen waren. Viele Hütten waren nur noch Ruinen, ihre windschiefen, aus Lehm, Spreu und Kuhmist zusammengekleisterten Mauern, hatten sich in der Regenzeit aufgelöst und waren nicht mehr repariert worden. „Wenn es eine Region gab, die dringend Hilfe brauchte, dann diese elende Ecke“, erinnert sich Papendieck.

In der ersten Nacht kroch er im Haus des Polizeichefs unter, wo er es jedoch nicht lange aushielt. „Es war stickig. Moskitoschwärme fielen mich an, in der Matratze lauerten alle Arten von Ungeziefer.“ Entnervt und zerstochen floh er ins Freie, schloss die Augen, atmete tief durch und versuchte sich an erfolgreiche Rettungsaktionen in verwüsteten Ländern zu erinnern. Zu seiner Verwunderung fiel ihm spontan das weltweit entlegene, fast vergessene Deutschland seiner Kindheit ein; die Nachkriegszeit mit den Ruinen, dem Hunger, den Flüchtlingsströmen, der Angst vor den Siegern, aber auch der Wiederaufbau und das so genannte Wirtschaftswunder nach der Währungsreform. Er spürte, wie sich ein Knoten löste. So musste man das machen, so wie die Menschen damals: „Nutzen, was noch da ist, aber auf keinen Fall den Leuten das Heft aus der Hand nehmen. Nicht wir, sondern sie selbst müssen ihr Land aufbauen.“

Yehia Ag Mohammed Ali entpuppte sich als idealer Vermittler zwischen den Stämmen

Zufall, Fügung und Spürsinn, bald darauf stieß er auf Yehia Ag Mohammed Ali, der sich schnell als idealer Vermittler zwischen den rivalisierenden Stämmen entpuppte. Sein Vorteil war, dass er aus einer hoch angesehenen Tuaregsippe stammte, sein Vater war ein so genannter Marabut, Schriftgelehrter, Patriarch, Politiker und Richter zugleich, dem magische Kräfte als Wunderheiler nachgesagt wurden. Vor seinem Tod übergab er den Marabut-Stab, die Insignie der Tuareg-Macht, Yehia, obwohl der keineswegs zum Nachfolger prädestiniert schien. Als junger Mann war er aus dem streng hierarchischen Gesellschaftssystem ausgebrochen, hatte in der Hauptstadt Wirtschaftswissenschaften studiert und als Banker in Togo, Niger und Mali gearbeitet. Zu allem Überfluss hatte er auch noch eine Frau vom Stamm der sesshaften, schwarzen Bambara geheiratet. In den Augen seiner Tuareg-Familie ein Makel, für seine Position als Makler zwischen seiner nomadisierenden Sippe und den sesshaften Verwandten seiner Frau ein unschätzbarer Bonus.

„Dass wir Yehia gefunden haben, war ein großes Glück für uns. Aber auch für ihn!“, schwärmt Papendieck, während sein Geländewagen im schlingernden Slalom zwischen mannshohen Termitenhügeln und Eukalyptusbäumen hindurch rumpelt. Es gibt keine Straßen und Wege im Norden. Nur wer ortskundig ist, findet von einem Dorf ins andere. Der Wagen klettert über Felsen und Dornengestrüpp, vorbei an alten Männern, die auf Eseln reiten, Kindern, die Schafe hüten, Frauen, die auf dem Kopf Matten aus geflochtenen Palmenblätter zum Markt nach Diré tragen. Zwanzigtausend Menschen leben in dieser Stadt am Niger, die heute erfüllt ist vom Geschrei, von Gerüche und Gefeilsche des Markttreibens. Schwarze Marktfrauen in fahnenbunten Gewändern sitzen vor Gewürzbergen auf ihren Matten, Kinder auf dem Rücken; dahinter der Hafen, wo Pirogen auf dem zweihundert Meter breiten Fluss schaukeln. Hundert Meter flussaufwärts legen die Bozos, die Fischer des Nigers, ihre Netze aus, zwei Flusspferde dümpeln in der Flussmitte, Storchenschwärme segeln am kargen Strand entlang, Frauen waschen ihre Wäsche im lehmbraunen Wasser.

Die wichtigste Funktion der Stationen ist der direkte Kontakt mit Hilfsuchenden

Was hier am Morgen zusammenströmt, fließt am Abend wieder ab – in hölzernen Pirogen, die Kräuter, Gewürze, Bastmatten und Salz gebracht haben. Aus dem Fenster der Niederlassung, die am Strand des Niger steht, hört man die Rufe der Schiffer, während die Abendsonne schon gegen sieben im Fluss versinkt.

„Antenne“ nennt Papendieck diese Station, eine von sieben Niederlassungen, die übers Land verstreut sind und die Kommunikation mit Einheimischen und Entwicklungshelfern ermöglichen. Um ständig senden und empfangen zu können, ist jede von ihnen mit einer Solarstromanlage und Funkantenne ausgerüstet. Aber die wichtigste Funktion dieser Stationen ist der direkte Kontakt mit Hilfsuchenden. Auch an diesem Abend wartet am Tor ein Dutzend Männer auf Yehia. Als er zu ihnen tritt, ist er im Nu umringt, stürmen Fragen auf ihn ein: Wann denn endlich die neuen Motorpumpen für das Bewässerungsprojekt kämen?, will einer wissen. Die Schule bräuchte dringend Bücher, Papier und Stifte, fordert ein anderer; bei der Verteilung der Ackerflächen gäbe es Streit, klagt ein dritter. Yehia behält die Ruhe, wickelt den Turban ab, lässt sich eine Kanne Wasser bringen, wäscht sich die Füße und wendet sich in Richtung Mekka, um zu beten. Die Männer folgen seinem Beispiel, erst danach bilden sie einen Kreis um Yehia, der das Für und Wider jeder Forderung abwägt, Lösungen vorschlägt und lächelnd Einwände entgegen nimmt.

Auch Henner Papendieck hat einen Gast, im Innenhof begrüßt er Nock ag Attia, einen Tuaregpatriachen, Herr über die Wüstenstadt Diré. „Als wir 1995 hier ankamen, lief gar nichts mehr“, erzählt Papendieck „Wer Äcker und Weiden besaß, dem fehlten entweder Wasserpumpen oder Diesel. Oder beides.“ Papendieck erkannte bald, dass Nock ein Mann war, der wusste, wie und an wen es sinnvoll zu verteilen war. „Dennoch. Der Kerl ist ein ausgefuchster Politiker“, sagt Papendieck. „So drängend, dass ich aufpassen musste, nicht über den Tisch gezogen zu werden.“

Wo die Deutschen und der Tuareg auftauchten, blühte das Land auf

Nicht nur in Diré wurden Papendiecks und Yehia mit offenen Armen empfangen. Denn ebenso wie Nock hatten die Clanchefs schnell begriffen, dass überall, wo die Deutschen und der Tuareg auftauchten, das Land aufblühte. „Wir wurden auch nie überfallen, obwohl wir das viele Geld immer bar in einem schwarzen Gummikoffer mit Vorhängeschloss transportierten“, sagt er.

Doch Papendieck stellte eine Bedingung: Friede. Nur Dörfer, in denen sich die verfeindeten Parteien an einen Tisch setzten und ernsthaft verhandelten, kamen in den Genuss der Hilfsgelder. In Youwarou protestierten die schwarzen Dorfchefs gegen den Zwang, mit den Tuareg zu kooperieren: „Wir wollen hier keine Rothäute.“ Papendieck und Yehia fackelte nicht lang. „Wir sagten, ohne Frieden läuft nichts und reisten ab.“

In den meisten Fällen hatte die Forderung Erfolg. Das Geld für Schulen, Krankenstationen oder Bewässerungspumpen vor Augen reichten sich die ehemaligen Feine schließlich doch die Hände. Aber es gab auch Rückschläge, Katastrophen, die nichts mit alten Rivalitäten zu tun hatten. Die erste dieser biblischen Plagen kam über den Stamm der Bellahs, ehemalige Leibeigene der Tuareg. Papendieck hatte es nach einer Friedenskonferenz der verschiedenen verfeindeten Ethnien in der Stadt M´Bouna geschafft, vierzigtausend von den Binnenflüchtlingen zurück zu holen. Doch am Ufer des Fabuigine-Sees, wo sie sich wieder ansiedeln sollten, brach die Cholera aus. „Die Kinder starben wie die Fliegen. Wir schafftenMedikamente und Lebensmittel heran und konnten die Menschen retten.“ Ein Jahr später trat der Niger über seine Ufer, der See wurde nach vielen trockenen Jahren wieder überschwemmt und trieb die Ratten aus ihren Löchern. „Riesengroße Viecher, die alles fraßen, was sie fanden: Ernte, Lebensmittel, sogar die Kleider der Leute.“ In ihrer Not baten Papendieck und Yehia die weisen Marabuts um Rat. Die wussten zwar, wie die Plage enden würde, aber das half keinem weiter. Abwarten, lautete ihr Rat. Wenn sich die Tiere im Übermaß vermehrt haben, verrecken sie von selbst. Papendieck zuckt mit den Achseln. „Darauf wollten wir es nicht ankommen lassen, deshalb sind wir ihnen sicherheitshalber mit Gift auf den Pelz gerückt.“

Zwei Monate lang zogen Heuschrecken in dichten Schwärmen am Fluss entlang

Die schlimmste Katastrophe ereignete sich im vergangenen Jahr. „Heuschrecken!“ sagt er mit angeekeltem Gesicht. Zwei Monate lang zogen sie in dichten Schwärmen am Fluss entlang, „der größte Schwarm, den wir sahen, war 26 Kilometer lang. Sobald wir das Boot verließen und an Land gingen, krochen sie an uns hoch. Das hat mich noch im Traum verfolgt.“ Wieder holte sich Papendieck Berater, erfahrene Landwirte. „Die Regierung sagte, das macht man mit Gift aus der Luft. Aber bei dem ständigen Wind hätten wir die Menschen und den Fluss vergiftet.“ Deshalb ließ er breite Gräben um die Felder ziehen, in denen die Heuschrecken erschlagen werden konnten. In einen zweiten Graben schütteten sie Benzin über die Plagegeister und zündeten sie an. Im dritten Graben gab´s Heuschreckengift von Bayer, das er aus seiner KfW-Kasse bezahlt hatte. Die Reisernte war damit gerettet, aber er weiß, dass die Weibchen ihre Säckchen mit Eiern in den Sand gelegt haben und ihr Nachwuchs nach dem ersten Regen im Juli schlüpfen wird.

All diese Katastrophen trafen Menschen, die schwere Zeiten hinter sich hatten. Der Krieg hatte all die Menschen zu Flüchtlingen gemacht, die in andere Regionen Malis gezogen oder ins Nachbarland Mauretanien geflohen waren. „Das Schlimmste für Nomaden wie die Tuareg war, ständig auf engstem Raum zusammengepfercht zu sein“, sagt Henner Papendieck. Es gelang ihm, viele von ihnen zurück zu holen. Er ließ Brunnen wieder freilegen, beschaffte Lebensmittel und Handwerkszeug, die die Leuten fürs erste vor den gröbsten Problemen bewahren sollten.

Die Menschen in Mali denken in Clans, Fraktionen und Sippen

Doch mit solchen Notprogrammen allein war dauerhaft nichts zu verändern. Um das Übel an der Wurzel zu packen, musste er Schlüsselfiguren für sich gewinnen. Denn die Menschen in Mali denken in Clans, Fraktionen und Sippen. Als Fremder aus dem fernen Europa tat er sich schwer damit. „Ich kenne das komplizierte Beziehungsgeflecht der Sippen nicht. Das sind uralte Geschichten, für Europäer kaum zu durchschauen.“

Er deutet auf die karge Landschaft, die sich vor der Station in Attara bis zum Horizont erstreckt. „Das sieht nur so trostlos aus, weil es acht Monate nicht geregnet hat“, erklärt er. „Aber wenn die ersten Tropfen im Juli gefallen sind, ist hier herum alles grün.“ Ein Grund zur Freude, „natürlich“, bekräftigt er, „aber bis dahin müssen unter den Viehzüchtern Entscheidungen getroffen werden.“ Die fallen nicht immer leicht, denn es geht darum, wer seine Rinder für wie viele Tage darauf weiden lassen darf. Ohne Yehia, der alle Sippen und Seilschaften, Winkelzüge und Verwicklungen kennt, stünde er auf verlorenem Posten. Nur ein einziges Mal hat Papendieck versucht, ein Problem ohne Mittelsmänner zu lösen und sich sofort die Finger verbrannt. „Eines Tages standen Händler vor der Haustür. Sie wollten Geld für den Rückweg in den Norden und ich sagte gradheraus, sie sollen mich in Ruhe lassen.“ Die Männer vom Stamme der Songhai entfesselten daraufhin einen Aufstand vor seinem Haus, Passanten kamen hinzu, solidarisierten sich, schimpften über „Diskriminierung und Ungerechtigkeit“, weil er bei anderen schon mal Reisegeld rausgerückt hätte und bei diesen ohne Angabe von Gründen nicht. In seiner Not rief er Nock an, der die Sache innerhalb einer Stunde regelte.

Die Männer bitten um einen Brunnen, um Impfstoff, um Diesel für die Pumpen

In Léré, wo Papendiecks ihre erste Station eröffnet haben, geben sich die Chefs der Dörfer die Klinke in die Hand. Yehia sitzt auf einer Schaumstoffmatte und hört wie immer geduldig zu. Die Männer bitten um einen Brunnen, um Impfstoff, um Diesel für die Pumpen. Yehia bespricht die Anträge danach mit Papendieck. „Wir prüfen die Vorschläge, oft sind Schlitzohren dabei, die nur ihren Vorteil sehen und nicht den der Gemeinde.“ Bleiben bei grundlegenden Fragen Zweifel, wendet sich Papendieck an den sogenannten Beirat, ein Ältestenrat. „Wir holten die Alten, die in den Regionen bei ihren Volksgruppen das Sagen haben. Die Jungen waren durch den Krieg geprägt, hatten nur gelernt, gewalttätig ihre Konflikte auszutragen, die konnten wir nicht gebrauchen.“ Die Alten dagegen kannten auch andere Wege. Mit jedem Greis der stirbt, verbrennt eine Bibliothek, schrieb einmal Amadou Hampate Ba, Malis berühmter Schriftsteller.

Nicht alle Mitglieder des Rates sind ein Herz und eine Seele. Der achtzigjährige Tuareg Mohamed el Mehdi, der mehrere Clans unter sich hat, sitzt dort neben seinem gleichaltrigem Rivalen Sididie Oumar Traore vom Volk der Songhai, politischer Kopf über das Land am Fabuigine-See, ebenso Umar ag Telfi, von den Bellahs, die ehemaligen Sklaven der Tuareg. Und nicht zuletzt Nock ag Attia, – gehasst und geliebt, stolz, empfindlich und hochfahrend, wie man es allen Tuareg nachsagt. „Alle waren sich seit Beginn der Rebellion spinnefeind. In unserem Wohnzimmer in Bamako saßen sie nach fünf Jahren das erste Mal zusammen“, triumphiert Papendieck „Wir sind Deutsche, habe ich ihnen gesagt, sind fremd bei euch, aber wir haben Geld. Und geben es nur dort aus, wo Frieden herrscht. Ihr sollt uns dabei beraten.“

Den Songhai-Führern war klar, dass sie von der Armee keine Hilfe erwarten konnten

Unter der Schirmherrschaft des Ältestenrats organisierten und finanzierten Henner und Barbara Papendieck in der Stadt M´Bouna das Treffen, das dazu dienen sollte, verfeindete Stämme zu versöhnen. Das war leichter, als sie zunächst gefürchtet hatten, denn den Songhai-Führern war klar, dass sie von der Armee aus dem Süden keine Hilfe erwarten konnten. Die Tuareg hatten erkannt, dass die Überfälle ihrer Rebellen auch den eigenen Leuten Tod und Vertreibung bringen. Beide Kriegsparteien kamen zum Friedenstreffen, ebenso die Bellahs, die von der Rebellion vertrieben worden waren, und die Fulben, die große Weideflächen mit den Tuareg teilen müssen. „Wir erreichten sogar, dass Frauen zu dem Treffen kommen konnten“, sagt Barbara Papendieck.

Sie alle kamen mit Lastwagen, zu Fuß und auf Eseln. Die Papendiecks hatten mit 500 Besuchern gerechnet, es wurden 2000. Songhai, Araber, Tuareg, Bellah und Fulbe hockten, diskutierten, feilschten und stritten unter freiem Himmel. Die Reden mussten in fünf Sprachen übersetzt werden. Es ging um Jahrhunderte alte Konflikte und Wünsche, um Wasser, Schulen, Arbeit, um die Entwicklung der Region. Ein paar Meter entfernt kochten und buken Frauen an riesigen Feuerstellen rund um die Uhr: Die Bilanz der Papendiecks kann sich sehen lassen: dreieinhalb Tonnen Reis vertilgte das Volk, dazu 180 Schafe, vier Ochsen, und Berge von Fladenbrot. 13 Millionen malische Franc kostete das Friedensfest, umgerechnet etwa 20.000 Euro. Eine gute Investition: Denn drei Tage später kamen die Nomaden aus dem hohen Norden wieder zu den Märkten. „Die Konferenz brachte die Aussöhnung“, sagt Barbara Papendieck und noch immer spiegelt sich die Freude über diesen Erfolg auf ihrem Gesicht.

Transistorradios plärren, Männer rauchen, Enten schnattern. Henner Papendieck genehmigt sich auf dem Dach der Station in Leré einen Jack Daniels. Ein kleiner Luxus nach all dem Staub und Dreck der Reise. Nach Einbruch der Dunkelheit legt er sich auf eine Matte unter ein Moskitonetz, über sich den schönsten Sternenhimmel Afrikas, und genießt die kühle Nachtluft. Wie in der Wüste des „Kleinen Prinzen“, wo es nichts gab als Wind, Sand und Sterne. Zweimal pro Jahr fliegt er für jeweils zwei Monate nach Berlin, dann besucht er mit Ehefrau Barbara Konzerte in der Philharmonie, geht ins Kino und Theater. Das ist ihr Vorrat an Kultur, der muss reichen für den Rest des Jahres.

Barbara und Henner Papendieck sind selten gemeinsam unterwegs

Barbara und Henner Papendieck haben sich das Programm Mali Nord aufgeteilt, selten sind sie gemeinsam unterwegs. „Meine Frau ist Soziologin und interessiert sich fürs Einzelschicksal. Ich bin Ökonom, mich interessiert die Region“, erklärt Papendieck. In Koumaira und Diré hat Barbara Papendieck mit Frauen aus den Dörfern vier Bewässerungsfelder entlang des Niger angelegt. Zwei davon sind nur mit dem Boot zu erreichen. Als Barbara Papendieck dort ankommt, wird sie von Tacko Toure, Sprecherin der Bäuerinnen, herzlich begrüßt. Eher säuerlich ist dagegen der Gruß, den ihr Oumou, die Beschneiderin des Dorfes entrichtet. Als ihre Mutter vor elf Jahren starb, hat sie die Aufgabe übernommen, nie sei ein Mädchen dabei gestorben, beteuert sie ungefragt, immer habe sie sauber mit dem Messer, später mit der Rasierklinge ein Fingerkuppen breites Stück von der Klitoris abgetrennt, wie sie es der Mutter abgeschaut hat. Die kleinen Mädchen sind hinterher ins kalte Flusswasser gesetzt worden, das habe die Wunde gesäubert. Im übrigen hätten es alle überlebt, erklärt sie missmutig.

Immer mehr Frauen setzen sich zum Flechten an die Hüttenwand. Alle mit schwarz tätowierten Lippen, was beim Stamm der Soninke als schön gilt. „Schon die erste Ernte vor zwei Jahren war fantastisch“, schwärmt Barbara Papendieck. „Sieben Tonnen Reis pro Hektar Land, jede Frau besitzt ein Viertel Hektar. Sie ernteten gemeinsam, lachten und alberten herum, und als ich sie fragte, was sie mit dem Geld anfangen wollten, antworteten sie: „Jetzt können wir es uns endlich wieder leisten, unsere Kinder beschneiden zu lassen.“

Barabara Papendieck war entsetzt! Ihr Entsetzen steigerte sich, als alle Frauen, die sie befragte, dasselbe sagten. Bis sie ihre Frauen-Gruppe nahe Diré traf, die nach aufklärenden Berichte im Radio vor fünf Jahren beschlossen, ihre Kinder nicht mehr beschneiden zu lassen.“

„Jede Wasserpumpe macht 30 Hektar Land fruchtbar und ernährt 700 Menschen.“

„Wir brachten die fünf dieser Mütter hier her, die berichteten, dass der Koran keine Beschneidung vorschreibt. Nach einer Woche fassten auch die Frauen in Koumaira den Beschluss, ihre Mädchen nicht mehr beschneiden zu lassen. Seither reden wir nicht mehr darüber.“ Nur Oumou, die Beschneiderin, ist seither arbeitslos.

Papendieck sitzt unterdessen in der Station von Attara und kann seine Ungeduld nur mühsam zügeln. Die Versammlung mit den Dorf- und Sippenchefs war auf zwei Uhr angesetzt, jetzt, eine halbe Stunde später, fehlen immer noch zwei. Drei sind mit ihrem Gebet beschäftigt. Er gibt Yehia ein Zeichen, der holt die Männer in die Runde. Heute ist Markttag in Attara und die Frauen hocken mit ihren Gewürzen, Salzblöcken, Fleischfetzen und Gemüsen immer noch auf ihren Bastmatten. Warum werden die neu gebauten Läden, die er finanziert hat, nicht bezogen? Gibt’s da etwa bürokratische Hindernisse? Yehia muss das regeln. Neulich, erzählt Papendieck, sei er durch Léré gegangen „und mir fiel auf, dass viele Lehmhäuser so dunkel sind. Ich ging näher und erkannte, die sind nass, die sind neu! Da passiert etwas! Das war ein guter Moment.“ Er freut sich, „dass die Menschen besser ernährt sind, dass viele jetzt Schuhe tragen.“ Wenn die Leute Arbeit haben, wenn Häuser gebaut werden, dann seien das Bausteine für den Frieden. Er zählt es an den Fingern ab: 25 Schulen, 45 Rathäuser, sieben Gesundheitsstationen, 13 Tiefbohrbrunnen, Impfkampagnen und 330 Motor-Wasserpumpen allein für den Norden Malis.“ Das ist kein Pappenstiel, „jede Wasserpumpe macht dreißig Hektar Land fruchtbar und ernährt an die siebenhundert Menschen.“ Er lächelt. „Manchmal fragen sich die Leute doch nach einem Sinn in ihrem Leben“, meint er. „Diese Arbeit hier ist der Sinn meines Lebens.“

Papendieck strafft die Schultern und hebt die Augenbrauen. „Jetzt musste der nächste Schritt kommen“, sagt er. „Die Banken.“ Damit sich die Menschen im Norden auch wirtschaftlich selbst verwalten können. Die ersten zwei hat er schon gebaut und eröffnet. Die Bank in Léré hat 697 Kunden.

Ein paar Meter weiter palavern immer noch die Männer. Der Ton ist ruhiger geworden. Schaumig süßer Tee macht die Runde. Yehia sitzt in der Mitte. Vier Stunden später wickeln sie sich die Turbane zum Schutz vor Sonne und Staub vors Gesicht. Yehia wiegt den Kopf, er sieht zufrieden aus. Am Montag wollen sich die Clanchefs wieder treffen.

Update Frühjahr 2009

Konflikt:

Die Lage im Projektgebiet ist ruhig. Anfang des Jahres 2007 erhoben sich jedoch in Niger wieder die Tuaregs. Die Revolte griff auf Mali über, wo aber seither Friedensgespräche erfolgreich verlaufen sind.

Projekt:

Das Programm Mali-Nord hat in den vergangenen Jahren stetig in den Ausbau von neuen Brunnen, Pumpen und Kanälen investiert, immer nach der Methode: Entwicklung von unten, vom einzelnen Bauern her. Die Mitarbeiter und beauftragten Unternehmen blieben dem Programm treu. Dank dieser Kontinuität haben sich die Kleinbauern auf gemachte Zusagen verlassen und zuverlässig planen können. Das ist vor allem für jene wichtig, die für den Kauf einer Motorpumpe sparen. Im kommenden Jahr werden in Diré ein Lagerkomplex, eine Ausbildungs- und Lehrlingswerkstatt ausgebaut und weitere 30 Bewässerungsfelder auf 1.200 Hektar angelegt. Nach 16 Jahren deutscher Unterstützung geht dann das Programm Mali-Nord zu Ende. Bis dahin werden 44.000 Kleinbauern und über 200.000 Menschen, die von deren Produktion abhängen, von dem Programm profitiert haben. Dieser Erfolg soll fortgesetzt werden: in einem ähnlichen Programm für weitere Gebiete des Landes.

www.mali-nord.de

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