Elena vermittelt zwischen Feinden
Text von Michael Gleich
Fotos von Uli Reinhardt
Der vielbeschworene Dialog der Kulturen braucht versierte Übersetzer. Menschen, die in verschiedenen Welten zu Hause sind. Elena Gulmadova ist Tadschikin, Gynäkologin und Diplomatin, ihr Vater betete zu Allah, ihre Mutter zu Jesus. Die Neutralität in Person, vermittelt sie in Mazedonien zwischen verfeindeten Muslimen und Christen.
Die Frau steht in der zerstörten Moschee und telefoniert. Das Handy am Ohr, wandert sie wie blicklos unter der zerfetzten Kuppel umher. Dem üppig verschnörkelten Schriftzug „Allah ist groß“ an der Wand hat eine Granate das Wort „groß“ ausradiert. Zufallssymbolik. Aber eine, die den Schützen gefallen hätte, den christlichen Soldaten, die auch das Minarett gezielt umgelegt haben. Das war an einem schönen Maitag, keine halbe Stunde haben sie dafür gebraucht, nach den Regeln des Soldatenhandwerks: gute Arbeit. Der weiße Turm ist auf die Kuppel gekippt und hat mit großer Wucht deren metallene Hülle durchschlagen und sie in zackigen Lappen nach innen gestülpt. Sie hängen wie Hautfetzen aus 15 Metern Höhe herab. Tauben bringen sie, darauf landend, leicht zum Pendeln. Die Vögel sehen kein zerschossenes Heiligtum, sie sehen einen neuen Fels, mit luftigen Einfluglöchern und geschützten Brutplätzen. Tiere arrangieren sich, kaum ist der Geschützdonner verhallt. Menschen brauchen Generationen.
Die Frau telefoniert. Trümmer und Tauben bleiben unbeachtet. Sie verabredet Gespräche. Den Schuldirektor will sie treffen, den Polizeichef, Vertreter der mazedonischen Minderheit in dem muslimischen Dorf Matejce. Um den Wiederaufbau soll es gehen. Nicht nur der Moschee, mit Spenden der Dörfler errichtet und bei ihrer Bombardierung erst drei Jahre alt. Auch die Schule ist im Sommerkrieg von 2001 zerstört worden, jedes zweite Haus unbewohnbar und Matejce ein ungastlicher Ort.
Geht das eigentlich, kann man Versöhnung organisieren?
Und die Frau steht inmitten von Ruinen und macht Termine. Elena Gulmadova ist Mitarbeiterin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und auf den ersten Blick eine Enttäuschung. Wir hatten zwar nicht erwartet, eine Mischung zwischen Mutter Theresa und Lady Di zu treffen, eine Lichtgestalt, die Flüchtlingskinder zu trösten und harte Krieger zu besänftigen weiß. Aber zumindest eine respektable Dame mit Charme und Charisma hatten wir erhofft, die Streithähne an den Verhandlungstisch nötigt und Konflikte schlichtet. Doch Elena ist 30 Jahre jung, hübsch und schüchtern und ein einziges Dementi unserer, zugegeben naiven, Vorstellung von einer Friedensstifterin.
Ihr Titel lautet „Confidence Building Officer“, eine Art Beauftragte für Vertrauensbildung. Aber geht das eigentlich, kann man Versöhnung organisieren? Vertrauen auf Bestellung? Frieden als Dienstleistung?
Die OSZE versucht es in Mazedonien zumindest. Sie vermittelt zwischen den (muslimischen) Albanern und den (christlichen) Mazedoniern. Die Frauen und Männer mit den Wagen im offiziellen Weiß sind die Augen und Ohren der internationalen Gemeinschaft. Rund 150 ausländische Experten bilden örtliche Polizisten aus, beobachten Gerichtsverfahren, damit es dabei mit rechten Dingen zugeht, begleiten Flüchtlinge, damit sie gefahrlos in ihre Heimatdörfer zurückkehren können, leiten finanzielle Aufbauhilfe in die richtigen Bahnen.
Elena lenkt den Geländewagen, weithin sichtbar mit den vier Großbuchstaben beschriftet, auf den Hof der Schule von Matejce. Der Direktor begrüßt sie mit herzhaften Küssen auf die Wangen, Elena war schon oft hier. Xhevdet Pramani führt durch lange, kahle Gänge, in denen Maurer die Wunden erstversorgen, die Mörsereinschläge gerissen haben. Viele Fenster sind zersplittert, seit zwei Jahren fehlt das Geld, neue einzusetzen. Ein paar bunte Kinderzeichnungen blieben heil, direkt neben Granatsplitterspuren. Ein menschliches Anatomiemodell liegt auf dem Gang herum wie ein aufgebahrter Leichnam.
Der Albaner glaubt nicht, dass die vertriebenen Mazedonier jemals zurück kommen
„Die Latrinen sind zerschossen, das Wasser geht nicht, wir haben keinen einzigen Computer“, klagt Xhevdet.
„Aber ihr renoviert,“ wirft Elena ein, „es sieht doch schon ganz prima aus.“
„Aber wir müssen 45 Schüler in einen Raum pferchen!“
„Komm, wir schauen mal, was sich machen lässt.“
Sie breiten Akten auf einem Plastiktisch aus. Elena hat Antragsformulare mitgebracht, Aufbauhilfe von der EU, sie hilft beim Ausfüllen. Doch das Klagelied des Schuldirektors bringt sie nicht so schnell zum Verstummen. In Matejce werde es nie mehr wie früher sein. Er, der Albaner, glaube nicht, dass die vertriebenen Mazedonier jemals zurück kommen werden. „Obwohl ihnen bei uns kein Haar gekrümmt würde.“ Das Gift des Hasses wirkt nach. Erst hatte die Armee in Matejce die albanischen Häuser beschossen, später, nach deren Abzug, mussten die Mazedonier im Dorf dafür büßen: Ihre Häuser wurden geplündert und niedergebrannt, von Nachbarn, mit denen sie seit alters einträchtig zusammen gelebt hatten. „Das wird wieder, Xhevdet. Wenn ihre Häuser instand gesetzt sind, werden sie kommen,“ sagt Elena, stets um optimistische Ausklänge bemüht.
Mit ihrer Mischung aus fachlichem Rat und psychologischer Betreuung, irgendwo zwischen Coach und Couch, hat sie das Vertrauen der Menschen in Matejce gewonnen. Sie nutzt es, um bei beiden Konfliktparteien um Verständnis für die jeweils andere zu werben. Klingt nach Kopfarbeit, belastet aber auch den Gefühlshaushalt. „Wenn ich eine Flüchtlingsfamilie treffe, die kaum zu essen hat, deren Kinder im Winter frieren müssen, von deren Heimat nur verbrannte Erde blieb,“ sagt Elena auf dem Rückweg ins Hauptquartier, „dann habe ich mit den Tränen zu kämpfen. Aber nur von Mitleid haben die Leute nichts. Mich muntert auf, wenn ich praktisch helfen kann. Nach vorne schauen – das hilft gegen Verzweiflungsgefühle.“ Sie meint die Betroffenen, aber der Satz gilt auch für sie selbst. Im Spannungsfeld zwischen notwendigem Einfühlen und verordneter Neutralität sucht sie Entlastung, indem sie die vom Krieg traumatisierten Dorfbewohner unterstützt.
Die winzigen, mühsamen Schritte haben was von Turmbau im Kinderzimmer
„Nichts Spektakuläres,“ wiegelt sie ab. Die OSZE habe keine eigenen Etats, könne aber Kontakte zu internationalen Geldgebern herstellen. Eine reparierte Straße hier, Minenräumen von Äckern und Wiesen dort, Zuschüsse für´s Gemeindehaus. Elena und ihr Team übernehmen einen Teil des Papierkriegs. Sie ermuntern, erklären, vermitteln, beraumen an, eröffnen. Wieder und wieder Diskussionen und Palaver mit allen Konfliktparteien, Gespräche, die sich oft im Kreise drehen. Diese winzigen, mühsamen Schritte haben was von Turmbau im Kinderzimmer: Hölzchen für Hölzchen werden aufgeschichtet, fein ausbalanciert, je höher der Turm, desto kippeliger die Balance. Uns dämmert langsam, dass in den Bergen Mazedoniens keine befrackten Diplomaten gebraucht werden, keine abgehobenen Lichtwesen. Sondern Handwerker des Friedens, die sich nicht davor scheuen, jahrelang kleine Klötze aufzustapeln, unverdrossen auch dann, wenn um sie herum wiedermal alles zusammenstürzt. Und das passiert auf dem Balkan ziemlich oft.
Mazedonien galt jahrzehntelang als Musterbeispiel für ein geglücktes Multikulti. Albaner, Türken, Roma, Serben und die Mazedonier als Mehrheit lebten relativ harmonisch zusammen. Eher vorsichtshalber richtete die OSZE vor zwölf Jahren ihre „Spillover Mission“ ein, die das Überschwappen der blutigen Balkankriege verhindern sollte. Bis Februar 2001 gelang das auch. Doch dann nahmen albanische Nationalisten einige Polizisten als Geiseln, Streitkräfte rückten in die Bergdörfer ein, das Schießen und Brennen begann. Polizei und Armee sind mazedonisch dominiert, die Berge nördlich der Hauptstadt Skopje aber mehrheitlich albanisch besiedelt. Eine hochexplosive Gemengelage. Politiker und die ihnen ergebenen Medien schürten den Hass zwischen den Ethnien. Sechs Monate tobte der Bürgerkrieg. Das reichte, um 170000 Menschen zu Flüchtlingen zu machen, Hunderte zu töten, Wiesen und Äcker zu verminen und ein ganzes Land zu spalten. Im August 2001 schlossen die albanischen Nationalisten und die Regierung einen Waffenstillstand, das Abkommen von Ohrid.
Die Rebellen der UCK hatten das Heiligtum zum Heerlager gemacht
Doch Frieden ist kein Zustand, der mit ein paar Unterschriften besiegelt ist, er ist ein Prozess, der damit beginnt. Elena fährt Streife in einem Waldgebiet nördlich von Matejce. Um den schweren Wagen über die holprige, tiefgefurchte Piste zu lenken, muss die zierliche Frau alle Armmuskeln einsetzen. „Gerade in diesen unwegsamen Gegenden ist es wichtig, dass wir regelmäßig nach dem Rechten sehen.“ Hier finden sich die Rückzugsgebiete für kriminelle Banden, Ernteplätze für illegale Holzfäller, Durchzugsrouten für Menschenhändler von Ost nach West. Angst unterwegs? „Naja, es ist unwahrscheinlich, dass uns Gangster angreifen. Wir können sie nur beobachten, nicht verhaften, und das wissen sie genau.“ Mulmig sei ihr dennoch manchmal, spätestens seit zwei norwegische UN-Soldaten von einer Mine in die Luft gesprengt wurden, nicht weit von hier. Der Angst nachzugeben erlaubt sie sich nicht.
Auf einer Bergspitze erhebt sich ein 600 Jahre altes Kloster. In normalen Zeiten nur eine wundervolle Aussicht. Im Krieg ein strategischer Punkt. Die Rebellen der albanischen UCK hatten das Heiligtum zum Heerlager gemacht. Von hier aus konnten sie das Land gut überblicken und unter Feuer nehmen. In der Kirche pinselten sie spätpubertäre Parolen über mittelalterliche Fresken. Jetzt wacht die Armee über das Denkmal, um weiteren Vandalismus zu verhindern. Unter einer ausladenden Buche haben die Soldaten eine Essecke aus groben Balken gezimmert, einer döst auf einem Feldbett. Schwerfällig erhebt er sich zur Begrüßung.
„Alles ruhig?“ fragt Elena. „Schlimmer. Langweilig ist es“, meint der junge Leutnant. „Besser als zu unruhig, oder?“ Elena deutet auf die Kalaschnikows, die auf der Sitzbank liegen. Die Soldaten murmeln zustimmend. Dass sie auf albanisch und auf mazedonisch murmeln, ist einer dieser kleinen Fortschritte, die Elena neuen Auftrieb verleihen. Die OSZE hat Polizei und Armee gedrängt, auch Albaner aufzunehmen. Seit die Patrouillen gemischt sind, gibt es weniger Spannungen mit den Dörflern. Und, wie versteht ihr euch untereinander? Der Leutnant nickt in Richtung Kochstelle. Ein Albaner putzt Gemüse, sein mazedonischer Kollege rührt im Topf. Der Küchenfrieden funktioniert.
Jedes Mal muss Elena den richtigen Ton finden
Für die Landessprachen braucht Elena einen Dolmetscher. Die Verständigung mit ganz unterschiedlichen Charakteren muss sie allein bewältigen. Sie verhandelt mit ausgewiesenen Gaunern und korrupten Richtern, mit Lehrern und Bauern, Priestern und Imanen, und jedes Mal muss sie den richtigen Ton finden. Nicht selten ist dieser Ton eine Stille. Ihr aufmerksames Zuhören, ihre unaufdringliche Präsenz signalisiert: Ich bin wegen euch hier! Uns anfänglich Enttäuschten dämmert, welche Gabe ein zurückhaltender, aber hartnäckiger Charakter ist, wenn jemand die Aufgabe hat, zwischen Konfliktparteien zu vermitteln.
Auch Elenas Herkunft hilft. Etwa, wenn sie neu in ein Dorf kommt und das übliche Freund-Feind-Fragespiel beginnt. Die Leute checken sie ab, ob sie vielleicht für eines der beiden Lager heimliche Sympathien hegt:
– Bist du eigentlich Muslimin oder Christin?
– Halb-halb.
– Wie geht denn das?
– Mein Vater ist Muslim, meine Mutter Christin.
– Und wen liebst du mehr: Mutter oder Vater?
– Ich liebe beide, und beide gleichermaßen. Das könnt ihr mir glauben.
Und dann erzählt Elena Gulmadova von Tadschikistan, von der Hauptstadt Duschanbe, wo sie geboren wurde, von der Sehnsucht nach Familie, sie lächelt dazu – und die Zweifel schmelzen dahin. Vor ihnen steht die Neutralität in Person. Berichten könnte Elena noch: vom Krieg in der Heimat, fünf Jahre Unruhen und Kämpfe, als sie Studentin war; von einer brutalen Razzia der Armee im Elternhaus, nachdem ein Nachbar vom Dach aus eine regierungsfreundliche Demonstration beschossen hatte; von Nächten in dunklen, kalten Räumen, weil der Strom ausgefallen war; von der Angst um den Vater, als die Familie kurzzeitig vor der Gewalt in die Ukraine floh und alle Telefonleitungen nach Duschanbe stumm blieben.
Das Talent, sich in andere einzufühlen, fällt nicht vom Himmel
Von alledem erzählt sie den Dörflern nichts. Das wäre ihr zu nah, zuviel Elena, zu sehr Gesprächsmittelpunkt. Die eigene Biographie als Eintrittskarte zur kleinen, hermetischen Welt der Bergler zu benutzen, liegt ihr fern. Aber es sind die Erlebnisse im wilden Tadschikistan, die sie von vielen westlichen OSZE-Kollegen unterscheiden. Die haben Krieg und Flucht nie am eigenen Leib gespürt. Elena weiß, wovon die Menschen reden, wenn sie von den Schrecknissen des Sommers 2001 berichten, es trifft auf eigene Erinnerung. Ein distanziertes „Was-geht`s-mich-an?“ wäre ihr gar nicht möglich. Das Talent, sich in andere einzufühlen, fällt nicht vom Himmel, es wird vom Leben geschult. An Elenas Händen lässt es sich ablesen. Mit ihren schmalen, feingliedrigen Fingern sagt sie oft mehr als mit Worten. Offen fächert sie die Hände auf den Tisch. Sanft legt sie die Spitzen aneinander. Alles umarmend fahren sie durch die Luft.
Aber diese Händen können auch entschlossen eingreifen, wenn sich die Situation zuspitzt. An einem Novemberabend des Jahres 2001 klingelte Elenas Handy, das sie Tag und Nacht bei sich trägt. Es war die Hochspannungszeit kurz nach Beendigung der offenen Kämpfe. In Panik schrie Rexhep Shaqiri, der Bürgermeister von Opae, ins Telefon: „Wir werden BESCHOSSEN. Du MUSST uns helfen. SOFORT!“ Opae zählt 2000 Einwohnern, die meisten sind Albaner. Maskierte mazedonische Polizisten hatten das Dorf umstellt. Als sie plötzlich Schüsse hörten, feuerten sie ihrerseits blindlings ins Zentrum, mit Maschinengewehren und Granatwerfern. Glücklicherweise hatte Elena die Mobilnummer des Polizeikommandanten beim letzten Treffen gespeichert, sie erreichte ihn binnen Minuten:
„Der Beschuss muss sofort aufhören!“
„Aber wir sind angegriffen worden…!“
„Da habt ihr was falsch verstanden. Die Albaner haben eine Hochzeit gefeiert und vor Freude in die Luft geschossen.“ Das hatte der Bürgermeister berichtet.
„Woher sollen wir das wissen? Okay, wir stellen das Feuer ein.“
Die Gelassenheit in brenzligen Situationen hat sie im Kreißsaal trainiert
Wie durch ein Wunder hatte es in Opae keine Verletzten gegeben. Ein Anruf, und der Krieg war wieder vorbei – „wenn es doch öfter so einfach wäre“, seufzt Elena. Die Gelassenheit in brenzligen Situationen, in Krisengebieten überlebenswichtig, hat sie an einem überraschenden Ort trainiert: im Kreißsaal. Sie hat Medizin studiert, sich dann auf Gynäkologie spezialisiert. „Während des Bürgerkriegs fiel in Duschanbe oft der Strom aus. Wir mussten die Geburten bei Kerzenlicht durchführen. Wenn Frauen eingeliefert wurden, bei denen die Fruchtblase geplatzt war, ging es um Sekunden. Und um Menschenleben. Unser Professor hat uns eingebläut, im größten Chaos ruhig zu bleiben, damit jeder Handgriff sitzt.“ Dieser Härtetest in Sachen „keine Panik“ war eine gute Vorbereitung für den Einsatz auf dem Balkan.
Elena ist Ärztin geworden, weil sie Menschen mag, und Gynäkologin, „weil jedes neue Baby ein schönes Erfolgserlebnis war“. Dennoch wurde ihr nach einigen Jahren die Wöchnerinnenstation zu klein. Sie wollte die Welt sehen. Da traf es sich gut, dass der junge Staat neue Diplomaten brauchte. In einem Crashkurs, der nur vier Monate dauerte, wurde sie für internationale Aufgaben ausgebildet. Sarajewo war ihre erste Station, jedoch als reiner Organisationsjob „viel zu weit weg von den Menschen“. Seit sie zum OSZE-Büro ins mazedonische Kumanovo wechselte, ist sie wieder so etwas wie eine Ärztin. Mit äußerst schwierigen Patienten: Eine ganze Nation ist an Körper und Seele verletzt. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die Wunden verheilt sind. Elena will zur Genesung beitragen. Aber hier und da ein Pflaster – wie soll das den Frieden bringen? „Albaner, Mazedonier, Roma – alle sind sich einig: Es würde ein Chaos ausbrechen, wenn die Ausländer gingen. Also bleiben wir.“
Wie notwendig ihre Präsenz, wie trügerisch und oberflächlich die Ruhe im Land ist, zeigt sich in den letzten Tagen unseres Aufenthaltes in Skopje. Der Hochsommer lockt die Menschen in die Straßencafés, abends flanieren hip gekleidete Jugendliche am Fluss Vardar entlang, der Duft von gegrilltem Fleisch liegt über den Plätzen. Südliches Flair, Balkan vom Besten, und wir denken: Hier könnte man schön Urlaub machen!
In einer angespannten Situation dürfen die Kontakte erst recht nicht abreißen
Doch dann explodieren kurz hintereinander drei Bomben in der Stadt, und alles ist anders. Vermutlich gibt es einen Zusammenhang mit einer Geiselnahme, die einen Tag zuvor in Elenas Einsatzgebiet passiert ist. Ein albanischer Nationalist und gesuchter Gangster mit dem Kampfnahmen Shakala ist von einer Streife angehalten worden; statt sich überprüfen zu lassen, hat er eine Waffe gezogen und die beiden Polizisten in seine Gewalt gebracht. Sofort als die Attacke bekannt wird, springt das kollektive Gedächtnis der Mazedonier an: Hatte nicht genau so der Krieg angefangen? Die OSZE versetzt ihre Mitarbeiter in höchste Alarmbereitschaft.
Wir treffen uns noch einmal mit Elena. Wie in der Zeit kurz nach dem Waffenstillstand darf sie nur noch im gepanzerten Wagen Patrouille fahren. Wenn sie aussteigt, zieht sie eine schwere, kugelsichere Bleiweste und einen weißen Helm an. Wieder fährt sie von Ort zu Ort, beruhigt Bürgermeister und Bauern, albanische Extremisten und mazedonische Soldaten. Nein, die Armee wird nicht wieder in den Dörfern einmarschieren. Nein, eine neue Offensive der UCK-Rebellen steht nicht bevor. Ja, ruft uns jederzeit an, wenn´s irgendwo kriselt. Und weiter, zum nächsten Gespräch. In einer angespannten Situation, weiß Elena, dürfen die Kontakte erst recht nicht abreißen. Jetzt ist sie jeden Tag zwölf Stunden unterwegs. Sie steuert mit der einen Hand, bedient das Handy mit der anderen. Der Frieden, eigentlich eine komplizierte Angelegenheit, lässt sich manchmal auf eine ziemlich einfache Formel bringen. „Solange die Leute miteinander reden“, sagt Elena, „schießen sie nicht“.
Update Frühjahr 2009
Konflikt:
Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung stuft den Kampf zwischen der albanischen Minderheit und der Regierung nur als „Krise mittlerer Intensität“ ein. Die gegnerischen Parteien schwanken zwischen zaghaften demokratischen Gehversuchen und Rückfällen in die Gewalt.
Projekt:
Elena Gulmadova, die studierte Gynäkologin, arbeitete in Mazedonien für die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. 2007 beschloss sie, ihre diplomatischen Kenntnisse zu fundieren und schrieb sich im Master-Studiengang „Menschenrechte“ der Universität Essex ein. Sie vertieft damit ihre Arbeit für die Gleichberechtigung von Frauen und gegen Menschenhandel, die bei der OSZE ihr Schwerpunkt gewesen war. Die „Spillover Monitor Mission to Skopje“ der OSZE will vermeiden, dass die Konflikte aus anderen Balkanstaaten nach Mazedonien überschwappen. Sie versucht, das Land bei seinen ersten wackeligen Schritten in Richtung von demokratischen Lösungen zu unterstützen. Rund 200 Mitglieder der Mission beraten die Polizei (und achten darauf, dass dort alle ethnischen Gruppen zum Zuge kommen), spüren Ungerechtigkeiten bei Gerichtsurteilen nach, fördern eine vielfältige Medienlandschaft und bringen Angehörige der Konfliktparteien (darunter auch die Roma) an einen Tisch. Die OSZE war Partner von Peace Counts on Tour, die im Oktober 2007 in der Nationalgalerie „Mala Stanica“ gastierte. Koordinator Tilman Wörtz führte Workshops mit örtlichen Journalisten durch, das Institut für Friedenspädagogik schulte LehrerInnen und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen.