Peace Counts – Wie man Frieden macht
Wer sich engagiert, muss nicht Gandhi oder Mutter Theresa sein. Ganz normale Menschen mit Mut und Durchhaltevermögen arbeiten daran, zerstörte Regionen wieder aufzubauen, das Trauma des Krieges zu heilen und ehemalige Feinde zu versöhnen. Sie haben Erfolg, wie die Beispiele und Biographien aus über 50 Krisenregionen zeigen. Ein globales Netzwerk von Friedensstiftern ist im Entstehen.
Von Michael Gleich
Wie man Krieg macht, weiß jeder. Das wussten Menschen schon, als sie noch nicht einmal die Sprache erfunden hatten. Eine Faust oder eine Keule genügte, dazu die Skrupellosigkeit, gegen Artgenossen rohe Gewalt anzuwenden. Mann gegen Mann, Sippe gegen Sippe. Später, mit fortschreitender kultureller Evolution, wurde aus der unbewusst und spontan angewendeten Gewalt der organisierte Krieg. Mit Heerzügen, die von Feldherren gelenkt werden, mit eigens dafür ausgebildeten Armeen, technisch fortschrittlichen Waffen und einem rational definierten Einsatzziel. So paradox es klingt: Krieg ist eine Kulturleistung der Menschheit.
Jetzt muss sie nur noch herausfinden, wie man Frieden macht. Und ihn dauerhaft hält. Das scheint weit komplizierter zu sein. Unmöglich ist es jedoch nicht: Wenn die Menschheit damit nicht bereits ziemlich viel Erfahrung gemacht hätte, gäbe es sie nicht mehr. In endlosen Kriegen und Schlachten hätte sie sich selbst ausgerottet. Viele Gesellschaften verfügen über ein altes Wissen, wie man Konflikte gewaltlos löst, wie man sich versöhnt, wie man Eskalationen verhindert. In Papua New Guinea verhandeln Stämme, nach Beendigung von Feindlichkeiten, über eine Anzahl von Schweinen, die den Blutzoll der jeweils anderen Partei entschädigen soll; manchmal wird die Versöhnung von einem gemeinsamen Schmaus gekrönt. In westafrikanischen Völkern sind es oft die Ältesten, „Les Chefs“, die bei Streitereien zwischen Clans und Dörfern eingeschaltet werden und deren Schiedssprüche von allen Seiten respektiert werden. Die Indianerstämme Nordamerikas befragten weise Männer und Frauen, wenn sie bei einer internen Auseinandersetzung nicht mehr weiter wussten: Spirituelle Autoritäten wurden bemüht, um irdisches Gerangel zu beenden. Keine Kultur auf dem Globus, die nicht Formen von Diplomatie und Palaver entwickelt hätten, Rituale der Besänftigung und Versöhnung, Wege der Wiedergutmachung.
Bis hierher reicht Allgemeinwissen. Wer jedoch genauer wissen will, „wie man Frieden macht“, der stößt auf ein merkwürdiges Phänomen: auf einen großen blinden Fleck. Zwei Institutionen, die als Wissensspeicher in Frage kämen, haben zu dieser Frage wenig beizutragen: die Medien und die Wissenschaft. Journalisten wollen vom Frieden nichts oder wenig wissen. Ihre große Passion ist der Krieg: das Spektakel von Tod und Flucht, die Dramen von Siegern und Besiegten, die gut verkäuflichen Schicksale hungernder und verzweifelter Menschen. Bad news is good news, und Krieg liefert nun mal die schlechtest-besten Nachrichten überhaupt. Sie steigern die Auflagen von Zeitungen, lassen im Fernsehen die Einschaltquoten klettern. So weit, so schlecht, aber auch so verständlich, wenn man weiß, dass die Presse nicht von engagierten Publizistinnen gelenkt wird, sondern von profitorientierten Kaufleuten.
Völlig unerklärlich ist der blinde Fleck jedoch in der Wissenschaft. Es gibt zwar unzählige Institute, Kongresse, Zeitschriften, Think Tanks und Gremien, die „Frieden“ oder „Sicherheit“ im Namen tragen. Schaut man jedoch genauer hin, über welche Themen dort nachgedacht und geforscht wird, erlebt man eine Überraschung: Die Mehrheit der Friedensforscherinnen erweist sich als Kriegsforscher. Sie wissen jede Menge darüber, warum Gewaltkonflikte ausbrechen, wie lange sie dauern, wieviel sie kosten, welche Rolle welche Akteure dabei spielen. Über den gelungenen Frieden dagegen wissen sie fast nichts. Eine Vermutung ist, dass Wissenschaftler auch nur Menschen sind, die sich eher vom Spektakel anlocken lassen als von stilleren gesellschaftlichen Prozessen. Ein zweiter Grund könnte sein, dass es leichter ist, Aufmerksamkeit zu erlangen und Forschungsgelder einzuwerben, wenn man sich damit beschäftigt, was die Medien dominiert – mit dem Krieg. So beklagt der Hamburger Politikwissenschaftler Volker Matthies zu Recht: „Der Friede gilt offenbar als selbstverständlich, nicht erklärungsbedürftig und nicht berichtenswert.“
Dabei wäre es äußerst verdienstvoll, das Wissen über gewaltlose Konfliktlösungen zu sammeln, zu systematisieren und so aufzubereiten, dass es für jedermann verständlich wird. Denn Konflikte sind nicht die Domäne von Diplomaten, Politikerinnen und Militärs. Konflikte existieren in jedem Bereich der Gesellschaft. Wir erleben sie in der Freundschaft, Liebschaft, Partnerschaft, in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, zwischen Unternehmerinnen und Gewerkschaftern, zwischen Parteien. Man kann sagen: überall dort, wo Menschen aufeinandertreffen. Konflikte sind eine notwendige Begleiterscheinung jeglichen sozialen Lebens. Nur Eremiten haben keine Konflikte.
Wenn zwei Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen aufeinandertreffen, und das ist der Normalfall, stehen sie vor der Aufgabe, einen Ausgleich auszuhandeln. Das ist eine Art Naturgesetz menschlichen Zusammenlebens. Konflikte an sich sind nichts Negatives. Im Gegenteil, das Aushandeln von Lösungen war und ist stets eine wesentliche Triebkraft der kulturellen Weiterentwicklung unserer Zivilisation. In deren Verlauf haben wir viele soziale Erfindungen gemacht, Gesetzeswerke erdacht, politische Instrumente perfektioniert, allgemein gültige Menschenrechte in Kraft gesetzt, unsere Fähigkeit zu Gespräch und Disput geschult. Konflikte sind Teil der gesellschaftlichen Dialektik, die Fortschritt fördert.
Doch Konflikte fordern uns auch heraus. Sie verlangen nachdem Besten in uns, um etwas Gutes daraus zu machen. Wir brauchen Bewusstheit, Kenntnis unserer selbst, Einfühlungsgabe und Redetalent, um ohne Angst einen Konflikt anzugehen, um ihn als Chance zu sehen und konstruktiv reagieren zu können. Alles Fähigkeiten, über die nur wenige Zeitgenossen verfügen. Deshalb ist es kein Wunder, dass die meisten Menschen harmoniesüchtig sind. Meinungsverschiedenheiten gehen sie, wo immer möglich, aus dem Weg. Das Fatale ist jedoch: Erst wenn sie unter den Teppich gekehrt werden, entfalten sie ihre zerstörerische Kraft.
Weil wir sie weder vermeiden können noch verdrängen sollten, müssen wir eine neue Kultur des Konflikts kreieren. Eine, die sich auf konstruktive Lösungen, auf kreative Umformung, auf Win-Win-Situationen, auf Vernetzung und Empathie versteht. Kultur ist ein sehr umfassender Begriff, und genau so ist er hier gemeint. Alle Bereiche und Ebenen sind angesprochen, von der intimen Zweierbeziehung bis zur globalen Sicherheitspolitik. Eine interessante Frage ist dabei, ob es Prinzipien der Konfliktlösung gibt, die auf allen Stufen funktionieren. Ob ein Familienzwist nach ähnlichen Gesetzen beigelegt werden kann wie ein Tarifkonflikt. Ob sich Streithähne auf dem Schulhof mit den gleichen Methoden besänftigen lassen wie Rebellengruppen. Ob eine Mediation zwischen Scheidungswilligen vielleicht Mustern folgt, die sich auch zwischen Bürgerkriegsparteien bewähren.
Von der Wissenschaft ist zu diesen Fragen bislang leider wenig Erhellendes gekommen. Das war einer der Gründe, warum sich Autorinnen und Fotografen zu dem Netzwerk Peace Counts zusammen geschlossen haben, um auf eigene Faust der Frage nachzugehen: „Wie macht man eigentlich Frieden?“ Die Journalisten schlossen sich mit Pädagogen und Forschern zusammen, um weltweit Erkenntnisse über den „gelungenen Frieden“ zu recherchieren. Denn von wem könnte man besser lernen, als von jenen, die als besonders versiert gelten? Es entstand die Idee, Konfliktlöserinnen zu beobachten und deren Arbeit in Form faszinierender Fotos und Reportagen zu dokumentieren: Frieden als die eigentliche Sensation. Was sind die Schlussfolgerungen aus einer weltweiten Expedition, die in mehr als 50 Konfliktregionen führte und das Wissen ganz unterschiedlicher Kulturen anzapfte?
Die folgenden zehn Thesen sind der inhaltliche Extrakt dieser Erkundungsreisen in Sachen Frieden, das Destillat authentischer Erfahrung vor Ort. Sie haben nicht den Anspruch, wissenschaftliche Studien ersetzen zu wollen; da sollen die Heerscharen von Soziologinnen, Politologen, Ökonomen und Historikerinnen, die sich in den Instituten für Friedensforschung tummeln, bitte zukünftig ihre Hausaufgaben machen. Die Thesen sind bewusst einfach und klar formuliert, unter Verzicht auf Nuancen und Differenzierungen, die mancher akademisch Interessierte vielleicht vermissen wird. Aber dafür haben sie gegenüber wissenschaftlichem Jargon einen unschätzbaren Vorteil: Sie sind verständlich. Sie machen das Wissen erfolgreicher Konfliktlöser einem breiten Publikum zugänglich – als wertvolle Inspirationen für die kleinen und großen Auseinandersetzungen in unserem Alltag.
1. Friedenstifterinnen haben Visionen. Sie richten ihre Arbeit nach Vorstellungen aus, wie Menschen unterschiedlicher Kultur, ethnischer Identität und Religion zusammen leben können. Sie entwickeln Konzepte für Machtteilung, Interessenausgleich und interkulturelle Kommunikation. Sie formulieren gemeinsame Werte für eine friedlichere Kultur.
Die Situation in einer Region, in der ein „heißer“ Gewaltkonflikt herrscht, lässt sich mit einem Verkehrsstau vergleichen, der zu allem Unglück noch in eine Sackgasse geraten ist. Die Autos stehen eingeklemmt, keiner kann sich vor oder zurück bewegen. Die Fahrer schreien sich gegenseitig an, Fäuste fliegen, jeder beschuldigt jeden, Schuld an diesem Stau zu sein. Und selbst diejenigen, die Willens sind, die verfahrene Lage gemeinsam zu beenden, kommen nicht voran, weil es zu viele andere gibt, die sich keinen Zentimeter von der Stelle rühren wollen. Die große Ausweglosigkeit. Wir sehen die dazugehörigen „Stau-Bilder“ täglich in den Abendnachrichten, Gewalt und Gegengewalt in einer endlos erscheinenden Spirale.
Um die Blockaden des Denkens und Handelns aufzulösen, brauchen die Beteiligten zunächst einmal eine starke Vision, die weit über den Tag und das Jahr hinausgeht. Als Motivation dienen attraktive mentale Bilder, die beschreiben, wie Menschen unterschiedlicher Kultur, Interessen, ethnischer Identität und Religion auf einem Fleck zusammen leben können. Von einem Traum oder einer Utopie unterscheidet die Vision, dass sie nicht einen „neuen Menschen“ erfindet, eine abgehobene Wunsch-Wirklichkeit, die den Kontakt zum Hier und Jetzt verliert. Vielmehr basiert sie auf einem Wissen davon, was Menschen leisten können, wenn sie ihre Kräfte auf ein gemeinsames Ziel richten; auf Erfahrungen, wie oft das Unvorhergesehene in den Lauf der Geschichte eingreift und sie in eine völlig neue Richtung lenkt; auf Ahnungen, welche Dimensionen soziale Umwälzungen, politische Revolutionen und technische Innovationen annehmen können. Eine Vision, die fasziniert, löst sich von den Verstrickungen der Gegenwart und setzt ein zusammenhängendes, plausibles Panorama einer besseren Zukunft dagegen.
Geschichte ist die Geschichte von Visionären. Die großen Religionsstifter gehören dazu, weil sie den Menschen eineWelt ausmalten, in der sie Sinn, Trost und Bedeutung finden werden und wo ihr Zusammenleben von göttlichen Gesetzen geordnet ist. Alleinherrscher wie Julius Cäsar, Dschingis Khan und Adolf Hitler verfolgten die Vision der gewaltsamen Unterwerfung des ganzen Planeten (woran man sieht: Vision ist ein wertneutraler Begriff; das jeweilige Zukunftsbild kann durchaus unmoralisch und unmenschlich sein). Politische Visionäre wie Marx und Engels entwarfen das Bild einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Ausbeutung und Sinnentfremdung des Menschen aufgehoben ist. Unternehmer wurden immer dann zu historischen Persönlichkeiten, wenn ihre Vorstellungen weit voraus eilten: Henry Ford mit seiner Vision „Jeder fährt Auto“ (zu einer Zeit, als Fußgänger und Pferdekutschen das Straßenbild beherrschten), oder Bill Gates, der kleine personal computer in jedem Haushalt voraussah (zu einer Zeit, als sich die Bosse etablierter Firmen nur Großrechner für verkaufbar hielten). Große Humanisten wie Florence Nightingale, Mahatma Gandhi und Martin Luther King, die für fundamentale Menschenrechte eintraten (zu einer Zeit, als eben diese Rechte und geächtete Gruppen von Menschen buchstäblich mit Füßen getreten wurden).
Geschichte wird von Visionären gemacht. Sie bewegen mehr als andere Menschen, weil sie mit ihren Ideen viele andere Menschen bewegen – wobei wir wieder beim Bild vom Stau und der Sackgasse wären. Visionärinnen weisen Auswege, indem sie sich von dem lösen, was ihre Zeitgenossen für unabwendbar halten und fatalistisch hinnehmen. Zu epochemachenden Figuren werden sie allerdings nur, wenn ihr Funke überspringt, wenn ihr Charisma mitreißt, wenn sie eine Massendynamik auslösen.
Überprüfen wir die These von der Macht des Visionären an einem Brandherd, an dem bisher alle Versuche scheiterten, aus der Konfliktfalle herauszukommen: am Nahen Osten. Seit mehr als 50 Jahren sind Israelis und Palästinenser in blutige Kämpfe verstrickt. Dass für Israel/Palästina durchaus Visionen für einen dauerhaften Frieden existieren, wirkt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zum vorher Gesagten; fast alle Politikerinnen aus der EU, den USA und Russland, die sich von außen in den Konflikt eingeschaltet haben, teilen die Vision von zwei souveränen Staaten, die als Nachbarn friedlich zusammenleben. In der „Roadmap to Peace“ ist dieses Zukunftsbild und die Schritte dorthin detailliert ausgemalt worden. Die Frage ist: Warum bewegen sich die Konfliktparteien dennoch nicht?
Die Antwort lautet: Weil der Funke der Vision bisher eben nicht übergesprungen ist. Es handelt sich um ein Konzept, das Europäer und Amerikaner zu faszinieren vermag – die tonangebenden Israelis und Palästinenser jedoch nicht. Man kann noch weiter gehen und sagen, dass die Israelis beispielsweise diese Vision als bedrohlich empfinden. Der Kampf gegen die Araber eint ihre Gesellschaft, die im Inneren voller Brüche und Spannungen ist. Säkulare Juden gegen orthodoxe, fundamentalistische Juden, russische Einwanderer gegen äthiopische, eine bedrohliche Kluft zwischen Arm und Reich. Träumen wir für einen Augenblick: Was wäre, wenn – plötzlich der Frieden ausbräche? Freundlich winkende Araber als Nachbarn in einem demokratischen Palästina? Dann müsste sich Israel zum ersten Mal in seiner Geschichte ernsthaft überlegen, welchen Staat es für sich selbst will, was die Identität dieser Nation ist. Es gälte, Wege zu finden, um zu verhindern, dass sich verfeindete Gruppen innerhalb Israels gegenseitig zerfleischen. Und man müsste Verwendung für all die Soldaten, Waffen und Rüstungsfabriken finden. Die militärischen Strukturen, die das Land prägen, müssten in zivile umgewandelt werden.
Angesichts dieser gigantischen Aufgaben erscheint dieser Gesellschaft offensichtlich die Eskalation von Gewalt, so bizarr das klingt, als das kleinere Übel. Ähnliches gilt für die andere Seite: Auch die Palästinenser bauen ihre nationale Identität zu einem großen Teil auf die Feindschaft zu Israel. Was, wenn sie dieser Feind „in Frieden“ lässt? So fehlen auf beiden Seiten politische und geistige Führer, die durch ihr persönliches Beispiel und ihre Überzeugskraft der Vision von fairer Koexistenz in Nahost Strahlkraft verleihen könnten.
Weil die große Politik in Konfliktregionen oft versagt, bekommen Initiativen und Menschen der so genannten Zivilgesellschaft zunehmend Bedeutung, die Friedensmacher „im Kleinen“. Sie finden sich mit der scheinbaren Ausweglosigkeit der Lage nicht ab, finden die Kraft, aus der Spirale der Gewalt auszuscheren. Sie schaffen es, sich immer wieder neu zu motivieren, weil sie an ihre persönlichen Visionen glauben. Als der Tamile P.N. Narasingham sein bisheriges Leben verließ, hatte er stets ein Bild vor Augen: „Eine Farm, eine friedliche Oase auf dem Lande, wo es keine Rolle spielt, ob du Singhalese oder Tamile bist, wo Menschen und Tiere zusammenleben.“
Der ehemalige Asylbewerber reiste in seine vom Bürgerkrieg verwüstete Heimat im Norden Sri Lankas. Teil seiner Vision war, dass ein einzelner Mensch sehr wohl etwas bewirken kann. Er fing an, Häuser für Kriegswitwen und – waisen zu bauen. Erst zehn, dann 65, danach kleine Dörfer für hunderte Familien. Hinzu kam eine Schule für Gehörlose, ein Straßenkinder-Projekt, eine Ökofarm und die Nothilfe für die Opfer der Flutkatastrophe Weihnachten 2004. SEED nannte Singham seine Organisation, und die Saat der Vision ging auf.
Auch die Idee des Japaners Yoshioka Tatsuya schien anfangs reichlich verwegen. Er war Anfang 20, noch Student und entsprechend mittellos, als er begann, für sein Konzept „Peace Boat“ zu werben. Anlass war eine Reform der Geschichtsbücher. Alle hatten erwartet, dass darin nun endlich die japanischen Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs aufgearbeitet würden, etwa die Verschleppung und massenhafte Vergewaltigung koreanischer Frauen. Nichts dergleichen geschah, die Bücher verschwiegen die Gräuel nach wie vor. Yoshioka beschloss: „Wir müssen nach Korea fahren und den Menschen dort sagen: Nicht das ganze Land leugnet seine Verantwortung – wir jungen Japaner sind anders!“ Zusammen mit einigen Freunden charterte er ein Schiff und dampfte nach Korea, um sich mit dortigen Friedensaktivisten zu treffen. Aus dieser ersten Mission wurden weitere, das Schiff größer, die Passagen länger. Heute umrundet das Peace Boat, ein gewaltiger Ocean Liner, dreimal im Jahr den Globus. Als Botschafter des Friedens, für humanitäre Einsätze, als schwimmende Universität, in der bis zu 1000 Passagiere Konflikte und Lösungen studieren. Seit 20 Jahren segelt das Projekt ständig hart am finanziellen Schiffbruch vorbei. Dass sich jedoch auch immer wieder Freiwillige Helfer und finanzielle Unterstützer finden, liegt, so meint Yoshioka, „an der Faszination, die unsere Vision ausübt: Sie zieht interessante Persönlichkeiten an wie ein Magnet.“
Ein Kennzeichen erfolgreicher Friedensmacher ist, dass sie ihre Projekte langfristig anlegen. Sie wissen: Vertrackte Konflikte lassen sich mit kurzatmigem Aktionismus nicht lösen. Die Vision, die sie entwickeln, dient ihnen auch als Navigator durch die Niederungen des Alltags, als das Licht am Ende des Tunnels, nach dem sie sich orientieren. So setzt der Benediktinerabt Benedikt Lindemann, der das deutsche Kloster in Jerusalem leitet, dem hektischen Kriegsgeschrei im Heiligen Land eine Seelenruhe entgegen, die sich aus Gottvertrauen, Meditation und einer starken Gemeinschaft speist: „Politisch sind wir in diesem Konflikt neutral. Als Christen stehen wir jeweils auf der Seite der Schwachen, der Opfer.“ Seit mehr als hundert Jahren harrt die kleine Schar der Benediktiner auf dem Berg Zion aus, direkt an der alten Stadtmauer, die Juden und Araber trennt. Und, da ist der Abt sich völlig sicher, „wir werden auch in den nächsten hundert Jahren hier sein und für den Frieden beten und arbeiten“.
2. Erfolgreiche Friedensstifter haben Ähnlichkeiten mit Unternehmern, im besten Sinn. Sie besitzen einen starken Willen, um vor den sich auftürmenden Problembergen nicht zu resignieren. Sie müssen gute Manager sein, über Verhandlungsgeschick verfügen, Geduld und Ausdauer besitzen.
Was nützt die schönste Vision, wenn man sie nicht verwirklichen kann? Eine wichtige Voraussetzung dafür, um nicht bei netten Gedankenspielen stehen zu bleiben, ist ein starker Wille, das Vertrauen in die eigene Kraft. Die Mehrheit der Menschen lebt im Konjunktiv: Sie könnten, sollten, müssten…Für diese weit verbreitete Haltung wurde der ironische Begriff Gutmensch geprägt: Er meint es gut, und er meint, dass das dann auch reicht. Dagegen sprechen erfolgreiche Friedensstifter im Indikativ aktiv: Ich helfe, ich mache, ich will. Sie packen die Dinge an, ohne sich lange mit dem Jammern über das Elend dieser Welt aufzuhalten. Ihnen eignet eine gehörige Portion Optimismus und eine Beharrlichkeit, die jedes auftauchende Problem als sportliche Herausforderung nimmt, der Mut, ein Risiko einzugehen, um seine Ziele zu erreichen. Darin ähneln sie echten Unternehmern, Persönlichkeiten, die losgehen und ihre Ideen verwirklichen.
Das erstaunt die Peace Counts-Reporter immer wieder aufs Neue: Inmitten von Trümmern, Flüchtlingen, Minengebieten und Guerilla-Attacken treffen sie Menschen, die sie mit strahlendem Lächeln begrüßen. Die, obwohl sie jeden Grund für düstere Gedanken hätten, eine Zuversicht ausstrahlen, die ansteckend wirkt. Pater Giovani Presiga ist so ein Mensch. Sein Kirchsprengel liegt in der Nähe der kolumbianischen Metropole Medellín, die von der Drogenmafia und täglichen Gewaltakten beherrscht wird. Die Dörfer, die Giovani betreut, werden immer wieder von Bewaffneten geplündert: mal von Rebellen, mal von Armee-Soldaten, mal von Paramilitärs. Seine Schäfchen sind Campesinos, arme Bauern, die oft von der Hand in den Mund leben, jedenfalls von dem, was ihre Felder hergeben. Doch was erzählt der Padre, als er bei einem Besuch in Deutschland seine Heimat beschreiben soll: „Wissen Sie, Kolumbien ist ein wunderbares Land, mit großartigen Landschaften warmherzigen Menschen. Irgendwann werden wir Frieden haben, dann werden wir die Welt von dieser Schönheit überzeugen.“
Auf seine eigentliche Funktion als Seelsorger mag sich Padre Presiga nicht beschränken. „Die Menschen hier brauchen sicher meinen geistlichen Rat und Trost. Aber sie brauchen auch etwas zu essen. Vor allem brauchen sie Schutz vor den ständigen Übergriffen.“ Für seine Leute wurde der Pater zum Unternehmer. Er baut Kooperativen auf, die neue, verbesserte Anbaumethoden einführen, um die Ernten zu steigern. Gemeinsam mit den Bauern entwickelt er Marketingkonzepte, um mehr Geld in die Kassen der Gemeinde zu bringen. „Nur wenn die Dörfer auch wirtschaftlich stärker werden, können sie sich gegen die Guerilla wehren.“ Seinen fast grenzenlosen Optimismus und Aufbauwillen bezieht Giovani Presiga aus seinem Glauben an Gott – das Leiten von Projekten dagegen musste er mühsam lernen. Spendengelder beschaffen, Budgets beschließen, Controlling, Bilanzen. Seine Erfahrung: Die Firma Frieden braucht gute Manager.
3. Friedensstifter analysieren die Hauptursachen des Konflikts. Daraus leiten sie Lösungsstrategien und geeignete Methoden ab. Sie kennen die ökonomischen, politischen und historischen Beweggründe der Akteure. Sie wissen um Handlungen und Symbole, die andere als provokativ oder bedrohlich empfinden, und vermeiden sie.
Wir kommen zu einer der schwierigsten Aufgaben für jemanden, der sich in Friedensprozessen engagiert. Bevor man in Aktion tritt, muss man herausfinden: Worum geht es hier eigentlich? Das ist ungeheuer schwierig, aber unerlässlich, wenn man nicht genau am falschen Ende ansetzen will. Konflikte stellen sich oft als ein schier unentwirrbares Knäuel aus Tätern und Opfern auf beiden Seiten dar, aus einem langen Geschichtsverlauf von Angriffen und Verteidigung, aus miteinander verflochtenen Akteuren jeglicher Couleur, aus Seilschaften der Sympathie und fest versponnenen Feindschaften. Dieses Knäuel lässt sich nur entwirren, indem man die Ursachen der Spannungen analysiert. Und erst dann wird ein sinnvoller Handlungsstrang sichtbar. Oft beruhen Konflikte gleich auf mehreren der folgenden Ursachenbündel:
– politische: Wo ganze Volksgruppen von der Macht ausgeschlossen, demokratische und Menschenrechte verletzt, Polizisten und Richter bestochen werden, da herrscht ein hohes Kriegsrisiko.
– ökonomische: Kampf um Ressourcen wie Erdöl, Coltan, Uran, Gold, und um die Nutzung von Wasser und Boden; Inflation und wirtschaftliche Stagnation.
– soziale: Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, Diskriminierung von Frauen.
– ethnische: Hutu gegen Tutsi, Hindus gegen Muslime, Protestanten gegen Katholiken. Allerdings sind nicht wenige Forscher der Meinung, dass es hier nur oberflächlich betrachtet um Hass auf andere Gruppen und in Wirklichkeit um Macht- oder Ressourcenteilung geht.
– historische: Unbewältigter alter Streit gebiert neuen; Länder, die bereits unter einem Bürgerkrieg gelitten haben, tragen laut einer Studie der Universität Oxford ein fast doppelt so hohes Konfliktrisiko wie solche, in denen bisher Frieden herrschte.
Wer durch sein Engagement die Dinge nicht schlimmer machen will, als sie es sowieso schon sind, sollte diese Ursachen sauber analysieren können. Konflikte lassen sich mit einer Krankheit vergleichen, die schleichend beginnt, dann voll ausbricht, sich zu einem fiebrigen Höhepunkt steigert, irgendwann abklingt. Eine sorgfältige Diagnose ist die Grundlage jeder gelungenen Therapie.
Eine Gefahr liegt – bei Krankheiten wie Konflikten – darin, bloße Symptome mit tieferliegenden Gründen zu verwechseln. In vielen Bürgerkriegsregionen gehört es zu einem mit Ausdauer vollzogenen Ritual, die jeweils andere Seite zu beschuldigen, den ersten Stein geworfen zu haben. Wenn man sich selbst als Opfer stilisiert, ist man moralisch freigesprochen und kann umso skrupelloser seinerseits Gewalt ausüben. Das erinnert an den Geschwisterzwist im Kinderzimmer: „Er hat angefangen!“ – „Nein, sie!“ – „Er hat mich zuerst geschubst.“ – „Sie hat zuerst meinen Turm kaputt gemacht.“ Und so weiter.
In Konfliktregionen wird dieses Spiel teilweise seit Jahrhunderten gespielt, mit dem Ergebnis, dass sich alle ausschließlich für Opfer halten und sich Außenstehende wundern, wo eigentlich die Täter herkommen. Mit anderen Worten: Für einen Konfliktlöser ist es müßig, die Kette von Gewalt und Gegengewalt bis in Urzeiten zurückzuverfolgen, um irgendeine Schuldfrage zu klären. Er muss vielmehr herausfinden, was den Konflikt gegenwärtig befeuert, wer die Akteure auf der Bühne und die Fädenzieher im Hintergrund sind, was Ängste und Ziele sind. Daraus kann er Strategien für die eigene Arbeit ableiten.
Im südafrikanischen Center for Conflict Resolution (CCR) wird diese Fähigkeit zur Analyse planvoll weiterentwickelt. In Kapstadt ansässig, gilt das CCR als Denkfabrik mit internationalem Renommee. Es betreibt nicht nur Forschung, sondern bildet auch selbst Vermittler und Konfliktlöser aus. Das Institut wurde in den Sechziger Jahren gegründet und hat die jüngste Geschichte Südafrikas hautnah miterlebt. Das grausame Apartheid-Regime, die Menschenrechtsverletzungen, den schwarzen Widerstand, schließlich den überraschend unblutigen Übergang zu einer funktionierenden Demokratie. Leidvolle Erfahrungen wurden hier verarbeitet und in etwas Positives verwandelt: Das CCR stellt das gesammelte Wissen der Südafrikaner
über Gruppenkonflikte und deren Lösung zur Verfügung, um anderen zu helfen. Schlichtung als Exportschlager: Mediatoren des CCR werden bei Grenzkonflikten im südlichen Afrika genauso zu Rate gezogen wie bei Kämpfen zwischen rivalisierenden Jugendbanden in den Townships bei Johannesburg. Sie schulen die Mitarbeiter von Unternehmen genauso wie die Freiwilligen des Roten Kreuzes. Ihr Credo: Konflikte gibt es überall, es kommt nur darauf an, sie richtig zu analysieren und kreativ mit ihnen umzugehen.
4. Friedensstifter sind gute Netzwerker. Sie arbeiten mit den unterschiedlichsten Akteuren zusammen, frühere Kombattanden, Friedensbewegte, Entwicklungshelfer, Unternehmer, Nichtregierungs-Organisationen genauso wie Regierungsmitglieder, lokale Behörden ebenso wie multinationale Organisationen.
Die jungen Leute in den weißen T-Shirts gehen direkt in die Höhle des Löwen. Die Höhle heißt Medellín, Kolumbiens Kokain-Metropole, die Löwen sind die Bosse und Bediensteten der Drogenkartelle, und wer sie reizt, wird nicht selten mit dem Tod bestraft. Auf den ersten Blick besitzen die jungen Leute keinen anderen Schutz vor dem Zorn der Löwen als ihre weißen T-Shirts. Die Freiwilligen der Peace Brigades International (PBI) mischen sich in den kolumbianischen Bürgerkrieg auf eine sehr spezielle Weise ein: Als menschliche Schutzschilde begleiten sie Umweltschützer, Gewerkschafter und Friedensaktivisten, um sie vor Attentaten durch Drogenkiller, Paramilitärs, Regierungssoldaten oder die Guerilla zu bewahren. Zwischen sechs und zwölf Monate engagieren sie sich, absoluter Gewaltfreiheit verpflichtet, Schutzengel irgendwo zwischen Gandhi und Bodygard. In Wirklichkeit schützt sie nicht das weiße Hemd mit dem PBI-Logo, sondern ein weitverzweigtes Netzwerk. Die Friedensbrigadisten dokumentieren täglich die Wege ihrer Mandanten durch Medellín. Jede persönliche Bedrohung, jede verbale Attacke wird protokolliert. Die Freiwilligen vor Ort sind mit der Zentrale in London verbunden, und die wiederum mit Agenturen, Zeitungen und Radiostationen in aller Welt.
Diese Vernetzung mit internationalen Medien und Organisationen ist auch in Kolumbien bekannt, dafür sorgt PBI. Insofern signalisiert das weiße T-Shirt: Achtung, wir sind die Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit! Wenn ihr unsere Schützlinge bedroht oder angreift, hängen wir das an die größte Glocke, die ihr euch vorstellen könnt! Ein Netzwerk als Alarmanlage: Mit dieser Methode arbeitet PBI erfolgreich auch in Indonesien, Mexiko und Guatemala.
Mit Hilfe der neuen, elektronischen Medien deuten Friedensmacher den altbekannten Satz „global denken, lokal handeln“ um: Sie handeln lokal, aber sie vernetzen sich global mit Unterstützern und Verbündeten. E-Mail, Internet und Mobiltelefone helfen ihnen, Informationen schneller, über größere Entfernungen, an mehr Teilnehmer als je zuvor zu senden. Ein Nebeneffekt ist, dass es aufgrund der immer dichteren Datennetze
den Kriegstreibern schwerer gemacht wird, Menschen mit Propaganda gegeneinander aufzuhetzen. Denn wie produziert man auf effektive Weise Hass? Man isoliere zwei Völker voneinander, verhindere, dass sie an freie Informationen von außen kommen, dann überflute man sie mit Lügen und Verleumdungen aller Art, die ein teuflisches Bild der jeweils anderen Seite malen. Das funktioniert, todsicher. In Informationswüsten gedeiht die Saat der Propaganda am besten. So auch Anfang der neunziger Jahre im ehemaligen Jugoslawien, als der Konflikt zwischen den Republiken Serbien und Kroatien ausbrach. Der Balkan war informatorisch eine Dürreregion, es gab keine unabhängigen nationalen Zeitungen und Rundfunkstationen, die regierende Partei kontrollierte und zensierte alle wichtigen Medien. Mit der Dauer des Konflikts wurde die Isolation schleichend verschärft. In der Frühphase galt es als unpatriotisch, Zeitungen aus den anderen Republiken zu lesen. Als der Kampf dann offen ausbrach, verstopften die Machthaber die Kommunikationskanäle komplett.
Telefongespräche zwischen Belgrad und Zagreb wurden fast unmöglich. Die Zeitungsredakteure erhielten Order, ein realistisches Porträt des Feindes zu zeichnen, was nichts anderes hieß, als ihn in den schrecklichsten Farben zu schildern. Die Maschinerie der Hassproduktion lief auf vollen Touren. Doch die Gegner des Kriegs durchschauten diesen Mechanismus des Bösen. Sowohl in Zagreb als auch in Belgrad formierten sich pazifistische Gruppen, die beschlossen, das Bombardement der Propagandisten zu unterminieren. Sie wollten Konfrontation durch Kommunikation überwinden. Als erste, noch primitive Informationsbrücke wurden Faxe nach London geschickt und von dort aus der jeweils anderen Seite zugesendet, denn Auslandsleitungen funktionierten weiterhin. Doch das Verfahren war langsam und teuer. Dann kam Eric Bachman, ein amerikanischer Friedensaktivist und Computerfreak, auf die Idee, in Deutschland und Österreich Mailboxen einzurichten, damit Aktivisten auf beiden Seiten der Front direkt miteinander kommunizieren konnten. Computer, die tagsüber Patientendaten verwalteten, wurden nachts zum subversiven Gespräch zusammengeschaltet. Das Netz wurde ZaMir getauft, also serbokroatisch „für den Frieden“.
Über den Draht im Untergrund organisierten Hilfsorganisationen humanitäre Einsätze, wurden Flüchtlinge von ihren Verwandten aufgespürt, dokumentierte der Holländer Wim Kat in einen „Kriegstagebüchern“ eindrücklich, wie die Menschen in Zagreb verzweifelt versuchten, ein einigermaßen normales Leben zu führen. In den elektronischen Räumen wurden komplette Friedenskonferenzen abgehalten, mit digitalen „Delegationen“ aus aller Welt. Journalisten, denen von der Zensur das Wort verboten worden war, konnten im Friedensnetz veröffentlichen, das Kosovo-Krankenhaus in Sarajewo zu Antibiotikaspenden aufrufen. Das Internet, einst von Militärs erfunden, hatte seinen ersten Kriegseinsatz, allerdings »za mir« – für den Frieden.
Die digitalen Datennetze machen den Demagogen einen Strich durch die Rechnung. Je dichter die Infonetze geknüpft sind, desto dünner ist die Luft für Zensur, Propaganda und Unterdrückung der Pressefreiheit. Das bewährt sich beispielsweise, wenn sich junge Israelis übers Internet mit gleichaltrigen Palästinensern austauschen, die wegen der Abriegelung der besetzten Gebieten keine Chance zu reisen haben.
Netze sind aber auch eine soziale Organisationsform. Im Gegensatz zur Hierarchie besteht ein Netzwerk aus selbstorganisierten Links, ist besonders flexibel, offen, fehlerfreundlich, alle Knoten darin behalten ihre Selbständigkeit. Ein Friedensmacher, der seine Kräfte realistisch einschätzt, weiß, dass er Alliierte braucht. Keiner kann alles alleine. Die Initiativen, über die Peace Counts berichtet, sind zwar lokal verwurzelt, aber in den meisten Fällen mit internationalen Partnern wie Kirchen, Hilfsorganisationen und Unterstützerkreisen verbunden. Und in einigen Fällen schaffen sie sogar das angeblich Unmögliche: Sie vereinigen Menschen, die eigentlich Feinde sein sollten, zu einem Netzwerk, in dem sie vertrauensvoll zusammenarbeiten.
So geschehen am Jordan. Der Grenzfluss hat drei Anrainerstaaten, die sich spinnefeind sind: Israel, Palästina und Jordanien. Zudem ist ein Fluss in den trockenen Regionen des Nahen Ostens prädestiniert als Zankapfel; jeder will das knappe, kostbare Nass für seine Zwecke nutzen. Doch während die Medien voll sind von Berichten über die weltweiten „Kriege ums Wasser“, zeigt sich am Jordan, dass ein Fluss auch Kooperation auslösen kann. Während sich ihre Regierungen bekriegen, arbeiten israelische, jordanische und palästinensische Umweltschützer eng und vertrauensvoll zusammen.
Sie überzeugen Landwirte von wassersparenden Anbaumethoden, planen Kläranlagen, schlagen das Jordan-Tal als Weltkulturerbe vor. Einer ihrer Sprecher, der Palästinenser Nader Al-Khateeb, sagt: „Umweltschutz kennt keine Grenzen, wir können nicht auf eine politische Lösung des Nahost-Konflikts warten.“ Die Ökologen wollen verhindern, dass der biblische Fluss zu einem Rinnsal verkommt und das Tote Meer, das der Jordan speist, langsam austrocknet.
5. Frieden ist kein Zustand, sondern ein Prozess, oft ein langwieriger und mühsamer. Erfolgreiche Konfliktlöser wissen: Ein Abkommen ist meist erst der Anfang. Es gilt, Störungen und Rückschläge auszuhalten. Als Erfolg gilt jede Form von Deeskalation, jeder Schritt zur Versöhnung, jedes vermiedene Leiden.
Medien brauchen Ereignisse, weil sie tagesaktuell berichten wollen. Krieg liefert Ereignisse. Der Frieden dagegen hat ein Imageproblem, weil er sich medial als sperrig erweist. Eine Ausnahme sind die großen Konferenzen und feierlichen Unterschriften unter Friedensverträge; hierzu versammeln sich Journalisten gern in Scharen. Das Problem ist jedoch, dass ein Vertrag nicht die Ziellinie, sondern ein Startpunkt ist. Nun beginnt das eigentliche Ringen erst. Das zeigte sich in Nordirland, das fast 35 Jahre lang unter einem blutigen Bürgerkriegs zwischen Protestanten und Katholiken mit der britischen Armee als dritter Konfliktpartei gelitten hat. Rund 3000 Menschen wurden getötet, die Zahl der Verletzten geht in die Zehntausende. Am Karfreitag des Jahres 1998 wurde ein Abkommen unterzeichnet, dass die Gewalt erst einmal beendete.
Herrscht nun Frieden in Belfast und Londonderry? Für zwei der ehemaligen Kämpfer bedeutete das Good Friday Agreement auch eine persönliche Wende. Peter McGuire hatte einst als „Karriere-Terrorist“ (eigene Einschätzung) auf Seiten der protestantischen UVF gestanden. Joe Doherty, einst bei der Irisch Republikanischen Armee, hatte wegen Mordes mehr als 20 Jahre lang im Gefängnis gesessen. Beide waren Mitte dreißig, Anfang 40, als sie sich vom bewaffneten Kampf lossagten. In einem Alter, wo andere Nordiren ihr Häuschen abbezahlen und ihre Kinder zur Uni schicken, fingen beide noch einmal ganz von vorn an. Sie arbeiten mit Jugendlichen, wollen den Nachwuchs davon überzeugen, sich vom Dunstkreis der paramilitärischen Gruppen fernzuhalten, die unter jugendlichen Arbeitslosen immer noch Rekruten werben. Denn das Karfreitags-Abkommen hat einen kalten Frieden begründet. Er steht auf dem Papier, ist aber in den Herzen der Nordiren noch lange nicht angekommen. Peter und Joe haben sich über Peace Counts persönlich kennen gelernt; bei der Podiumsdiskussion sagten sie unisono: „Hätten wir uns fünf Jahre früher getroffen, hätten wir versucht, einander umzubringen.“ Sie wissen, dass es Generationen dauern wird, bis das Misstrauen und die gegenseitige Anklage, die teilweise Jahrhunderte zurückreicht, einem echten Miteinander gewichen sind.
Erfolgreiche Konfliktlöser zeichnen sich dadurch aus, dass sie akzeptieren, dass der Weg lang ist und ihre Schritte klein sind. Während Zerstörung schlagartig geschieht – manchmal reichen Stunden, um ein ganzes Stadtviertel in Schutt und Asche zu legen –, kostet der Wiederaufbau eine Menge Zeit und Schweiß. Die Wissenschaft bietet eine Erklärung, warum das eine so schnell geht und das andere so lange braucht. Wer etwas kaputt macht, bewegt sich im Einklang mit dem Pfeil der Entropie: Nach einem Grundgesetz der Physik strebt alles in der Welt in Richtung von mehr Unordnung, sprich Entropie. Wer dagegen etwas aufbaut, stemmt sich gegen diesen Strom zunehmender Unordnung – und das ist mühsam. Wir können das anhand der kleinen Dramen im Kinderzimmer beobachten: Das eine Kind baut stundenlang an einem Turm aus Bauklötzen, sein Brüderchen schmeißt ihn lustvoll in Sekundenbruchteilen um. Unordnung hat leichtes Spiel.
Friedensmacher sind Turmbauer. Sie wissen, dass sie einen langen Atem brauchen, wenn sie etwas verändern wollen und wenn ihr Engagement nachhaltig sein soll. Wie jede gute Unternehmerin, jeder versierte Manager pflegen sie ein Prozessdenken, das eine natürliche Eigendynamik der Ereignisse einkalkuliert, Unvorhersehbares einbezieht, lieber flexibel reagiert als stur Pläne zu verfolgen. Sie lassen sich von ihrer Vision leiten wie ein Kapitän vom Leuchtturm, aber sie sind auch offen für die guten Gelegenheiten, die sich während der Passage auftun.
Die Frage ist: Was definiert man als Zielhafen, bei dessen Erreichen gefeiert werden kann und die Korken knallen? Wann kann man eigentlich sagen, ein Friedensstifter arbeite erfolgreich? Wie misst man seinen Fortschritt? Nähme man den Weltfrieden als Maßstab, dann hätten bisher alle versagt, die sich dafür eingesetzt haben. Nach wie vor schleppt die Welt durchschnittlich drei Dutzend Gewaltkonflikte von Jahr zu Jahr mit, von regionalen Kämpfen bis zu zwischenstaatlichen Kriegen. Niemand hält es für wahrscheinlich, Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung komplett vom Planeten Erde zu verbannen. Statt sich mit solch einem utopischen Ziel zu frustrieren, orientieren sich die Macher lieber am „kleinen Frieden“. Ihren Erfolg messen sie an kleinen, konkreten Verbesserungen in ihrer Region: wenn Rebellen einen Teil ihrer Waffen abgeben; wenn die Armee Straßensperren beseitigt wie in Entspannungsphasen in Israel; wenn wie in Belfast katholische Kinder wieder durch ein protestantisches Viertel zur Schule gehen können; wenn die Konfliktparteien erstmals Gremien gemeinsam besetzen, wie in Sri Lanka, wo im Norden Regierungsvertreter und Tamil Tigers erstmals zusammen über die Verwendung internationaler Hilfsgelder entscheiden mussten; wenn die Stationierung von Blauhelmen zugelassen wird; wenn Minenfelder geräumt werden und Bauern wieder ihre Felder betreten können; wenn Kämpfer in zivile Berufe umgeschult werden. Im Extremfall kann ein Erfolg schon darin bestehen, dass verfeindete Muslime und Christen es wieder wagen, in einer Straße nebeneinander zu leben, wie etwa in der ansonsten strikt ethnisch geteilten Stadt Mostar, Bosnien-Herzegowina.
Es komme darauf an, sagt der renommierte Konfliktforscher Johan Galtung, mit jedem dieser Schritte eine Kultur ein wenig friedlicher zu machen als vorher. Wer in Prozessen denkt, der weiß: Die nächst höhere Stufe löst zwar Probleme der darunter liegenden, sie produziert aber auch neue. Dieser Gesetzmäßigkeit folgt jede Form von Evolution. Dialektische Entwicklungen kommen zu keinem Endpunkt, jeder gefundene Kompromiss zwischen zwei Positionen wird zum Ausgangspunkt einer neuen Diskussion, eines weiterführenden Prozesses. Deshalb wird es keinen Zeitpunkt auf der Erde geben, wo alle Probleme gelöst und alle Entwicklung zum Halten kommt. Oder wie es der Philosoph Peter Sloterdijk ausdrückt: „Der Traum vom Weltwochenende wird unerfüllt bleiben.“
Was bedeutet das in den Niederungen des Alltags? Friedensstifter haben immer dann Erfolg, wenn sie sich realistische Ziele stecken und akzeptieren, dass sie zwar den Anfang ihres Weges kennen, aber nicht dessen Ende. Etwa wenn deutsche Polizisten nach Afghanistan entsandt werden, um der jungen Regierung dabei zu helfen, in einem von Warlords terrorisierten, unterentwickelten und ethnisch zersplitterten Land für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Kriminalisten finden veraltete Technik vor, Karteien mit 30 Jahre alten Fingerabdrükken, Kopierer, aber keinen Toner, ein Labor ohne Mikroskop.
Die 16 Berater aus Deutschland müssen mit ansehen, wie Korruption und Vetternwirtschaft wie eine Seuche alle Behörden infizieren. Immer wieder schlichten sie als neutrale Dritte im Kompetenzgerangel der Behörden und Ministerien. Am schlimmsten sei es für ihn, sagt ein Kriminalrat aus Berlin, wenn sich nach einer Entführung keiner der afghanischen Kollegen traut, Ermittlungen aufzunehmen, weil sie sich vor der Rache der Banditen fürchten. Lang und steinig sind in Afghanistan die Wege, um aus einem totalitären Regime einen demokratischen Rechtsstaat zu machen. Ihre Erfolgserlebnisse machen die Berater an eher unscheinbaren Wegmarken fest. Einer von ihnen sagt: „Jeder Tag, an dem einigermaßen Sicherheit und Frieden herrscht, ist ein lohnender Tag.“
6. Friedensstifter sind kreativ und unkonventionell. Sie verlassen ausgetretene Pfade, die einen Konflikt nur verstetigen, und brechen erstarrte Fronten auf. Sie formulieren positive Ziele, schaffen Win-Win-Situationen und bewegen Konflikte so auf eine andere Ebene, auf der sich neue, überraschende Lösungsmöglichkeiten auftun.
Auf einem Tisch liegt eine Orange. Davor sitzen ein Junge und ein Mädchen, und beide sind scharf auf die Frucht. Sie wollen sie haben, und sie wollen sie ganz. Das gibt natürlich Zoff. Ist doch einfach, denkt man als Außenstehender, hier Frieden zu stiften. Wird die Orange eben geteilt. Aber das Mädchen will davon nichts wissen: „Er hat gestern schon zwei gegessen, die hier steht mir zu.“ Und er gibt sich mit einer Hälfte ebenfalls nicht zufrieden: „Ich bin älter und größer, mir steht mehr Obst zu.“ Die Positionen scheinen unvereinbar, die Fronten verhärten sich, ein Kompromiss ist nicht in Sicht.
Der Konfliktforscher Johan Galtung nennt das Orangen-Beispiel, um den Blick seiner Zuhörer dafür zu öffnen, dass sich selbst in scheinbar verfahrenen Situationen eine überraschende Zahl von Auswegen finden lässt. Eine simple ist, dass sich im Gespräch, das ein neutraler Dritter vermittelt, herausstellen könnte, dass die beiden Streithähne jeweils etwas Bestimmtes von der Orange wollen: der Junge den Saft, das Mädchen die Schale als Aroma für einen Kuchen, sodass sich das Problem in Luft auflöst. Oder ein Schlichter begeistert die Kinder für kreativere Formen des Teilens: Die Orange wird ausgepresst, den Saft bekommen beide. Die Kerne der Frucht werden eingepflanzt und die Kinder ziehen gemeinsam ein neues Bäumchen heran. Oder man kauft noch eine zweite Frucht hinzu, daraus wird der Belag für einen Kuchen. Oder eine Lotterie wird veranstaltet und die Orange versteigert. Oder, oder, oder. Bei ausgiebigen Brainstormings wurden bereits an die hundert unterschiedliche Kniffe gefunden. Johan Galtung stellt für Konflikte die These auf: Je mehr Alternativen, desto weniger wahrscheinlich wird eine gewaltsame Eskalation. Das bestätigt sich bei der Arbeit vor Ort.
„Ich versuche immer, die Konfliktparteien zu überzeugen, dass beide am Ende mehr haben werden, wenn sie kooperieren“, sagt die Tadschikin Elena Gulmadova. Sie ist von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nach Mazedonien geschickt worden, wo sich Christen und muslimische Albaner immer wieder unversöhnlich gegenüber stehen. Wenn es um die Macht im Staate geht, lautet die Grundannahme: Was die anderen gewinnen, entspricht dem, was wir verlieren – und umgekehrt. „So lange alle glauben, es handle sich um ein Nullsummenspiel,“ sagt Elena, „wird niemand nachgeben.“
Ihre Aufgabe besteht darin, zunächst das Misstrauen der Kontrahenten abzubauen, und sie im zweiten Schritt erleben zu lassen, dass Win-Win-Situationen möglich sind. Etwa beim wirtschaftlichen Aufbau: Wenn sich die Dörfer im bergigen Norden von den Folgen des Bürgerkriegs erholen, nutzt dies Albanern wie Mazedoniern, die dort früher Tür an Tür gelebt haben. Für den heiklen Job zwischen den Stühlen eignet sich die Tadschikin, die früher als Gynäkologin gearbeitet hat, wie keine zweite: Ihr Vater ist Muslim, ihre Mutter Christin, „und im Kreissaal habe ich gelernt, selbst in brenzligen Situationen ruhig Blut zu bewahren“.
Eine kreative Möglichkeit, Misstrauen zwischen Gruppe abzubauen, besteht darin, zwischen ihnen Treffen in spielerischer Form zu vermitteln. Weltweit hat sich Sport als Feld für solche Begegnungen bewährt, insbesondere bei Jugendlichen. In Ruanda wird Volleyball gefördert, weil diese Sportart weder von Hutus noch von Tutsis dominiert wird, beide Ethnien können sich damit identifizieren. Im kolumbianischen Medellín erreichte früher die Zahl der Gewaltakte in der Nacht von Freitag auf Samstag ihren Höhepunkt; also kam eine deutsche Initiative auf die Idee, genau zu dieser Zeit Straßenfußball-Turniere anzubieten, wo sich Jugendlichen im fairen Wettkampf verausgaben, statt sich Bandenkriege zu liefern.
Der Erfolg war durchschlagend, die Verbrechensrate ging zurück, dank „Fútbol para la paz“, Fußball für den Frieden. Drittes Beispiel: Auf Zypern, der nach wie vor geteilten Insel, bringen zwei Lehrer, der Türke Ulus und der Grieche Nicos, Schüler von beiden Seiten des Schlagbaums zusammen. Über die Jahre haben Ulus und Nicos, die von der politischen Großwetterlage eigentlich zu Feinden bestimmt sind, sich kennen und schätzen gelernt. Dieses Vertrauen zeigen sie ihren Schülern, um die nächste Generation zu ermutigen, aufeinander zuzugehen. Die beiden Pädagogen setzen auf Fußball als Faszinosum, um die Kinder für den Austausch zu begeistern. Er fungiert als eine universale Sprache: Fußball braucht Schiedsrichter, aber keine Dolmetscher.
7. Friedensstifter engagieren sich nach Kriegsende für Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Denn oft bricht die Gewalt wieder aus, wenn eine oder mehrere Seiten enttäuscht feststellen, dass sich die Versprechungen einer Friedensdividende nicht erfüllen.
Die deutschen Benediktiner des Klosters Hagia Maria Zion in Jerusalem haben verstanden, dass man für den Frieden nicht nur beten, sondern auch arbeiten muss. Sie übertragen „Ora et Labora“ ihres Ordens auf den blutigen Nahostkonflikt und engagieren sich ganz handfest für die wirtschaftlich benachteiligten Palästinenser im benachbarten Bethlehem. „Ein junger Mensch, der in einem Flüchtlingslager aufwächst und keinerlei Aussicht auf ein Studium oder einen Job hat, der muss doch verzweifeln“, sagt Abt Benedikt Lindemann. Er weiß, dass radikale Organisationen wie Hamas und Hisbollah unter den Heerscharen der Verzweifelten ihre Kämpfer rekrutieren – und auch Selbstmordattentäter. Deshalb werden die Mönche zu Entwicklungshelfern. Sie halfen beim Aufbau eines großen Ausbildungszentrums, in dem vom Kunsthandwerk bis zum Journalismus Dutzende Berufe gelehrt werden, und übernehmen einen Teil der laufenden Kosten.
Viele bewaffnete Auseinandersetzungen weltweit entzünden sich, wie hier zwischen Palästinensern und Israelis, zwar zwischen zwei Volksgruppen. Aber sie deshalb als „ethnische Konflikte“ zu bezeichnen, ist zu oberflächlich. Der Begriff legt nahe, die Hauptursache sei gegenseitiger Hass. Doch die wahren Gründe liegen tiefer. Meist geht es um eine faire Verteilung von Macht und Geld, um die Nutzung von Ressourcen wie Erdöl, Diamanten oder Gold, um die Herrschaft über wichtige Verkehrsknotenpunkte, beispielsweise Häfen. Wenn einer Gruppe dauerhaft und gewaltsam solche Zugänge verweigert werden, kann sie zu dem Schluss kommen: Ein Aufstand ist die einzige Chance, zu unserem Recht zu kommen! Eine schlechte wirtschaftliche Gesamtlage und soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit heizen die Stimmung zusätzlich an.
Nehmen wir einmal an, in einem Land ist es auf diese Weise zum Bürgerkrieg gekommen, aber durch Verhandlungen wurde irgendwann ein Friedensabkommen unterzeichnet. Dennoch wird die Lage so lange explosiv bleiben, wie sich nicht auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Das Kalkül der Konfliktparteien folgt meist einem recht einfachen Schema: Im Krieg haben wir so viel gelitten, haben gewaltige Geldbeträge in Waffen investiert, haben das Leben unserer Soldaten gegeben – nun wollen wir auch die Früchte ernten!
Ihre Abwägung ist, wenn man alle Emotionen mal abzieht, im Kern eine rationale: Frieden soll sich für sie mehr lohnen als Krieg. Ist das nicht der Fall oder fällt die „Friedensdividende“ zu schmal aus, kehren die Kombattanten zu den Waffen zurück. Das ist leidvolle Erfahrung in vielen Krisengebieten. Etwa in Sri Lanka. Dort fühlt sich der tamilische Norden von der singhalesisch dominierten Zentralregierung vernachlässigt und unterdrückt. 1983 begann ein Bürgerkrieg, der 20 Jahre dauerte, 70 000 Menschen das Leben kostete und anderthalb Millionen in die Flucht trieb. Seit Februar 2002 ist ein Waffenstillstand in Kraft, der mit Hilfe und auf Druck der internationalen Gemeinschaft zustande kam. Für den Fall eines Einschwenkens war den Fraktionen eine umfangreiche Aufbauhilfe versprochen worden, die Weltbank sagte ein Milliarden-Dollar-Programm zu. Als sich die Situation im Laufe des Jahres 2004 wieder zuspitzte, war externen Beobachtern klar, dass der Hauptgrund Frust war. Die Rebellen der „Tamil Tigers“ fühlten sich um die Früchte ihres Kampfes betrogen, der erhoffte Geldsegen für die zerstörte Region im Norden blieb aus ihrer Sicht aus.
Die Initiative des Tamilen Singham, der genau an der Grenze zwischen Regierungs- und Rebellengebiet arbeitet, ist eine Antwort auf diese Problemlage. Die Maxime seiner Organisation „Soziale, ökonomische und ökologische Entwickler“ lautet: „Nur wenn sich die Dörfer ringsumher wirtschaftlich entfalten, wird dauerhafte Stabilität möglich.“
Wie er verstehen sich die meisten Friedensmacher, die Peace Counts porträtierte, auch als Motoren von wirtschaftlicher Entwicklung. Selbst solche Initiativen, von denen man das zunächst überhaupt nicht erwartet, etwa die Naturschützer der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft (FZG). In Tansania betreut die Organisation unter anderem den Serengeti Nationalpark. Die Savannen nördlich des Kilimanjaros gelten als eines der wichtigsten Großschutzgebiete der Welt. Hier bietet sich noch das Schauspiel der Großen Migration, der jährlichen Wanderung von mehr als einer Million Gnus, Zebras und Büffel. Doch in einem armen Land wie Tansania werden Naturreservate von allen Seiten bedroht. Eine wachsende Bevölkerung versteht nicht, warum in einem Gebiet, das fast so groß wie Schleswig-Holstein ist, alles Nützliche und Begehrliche für sie Tabu sein soll: Fleisch, Brennholz, Gras, Honig und Wasser.
Vor allem das Fleisch. Seit der Zeit, als Bernhard Grzimek, tierliebender Fernsehheld der Nation, die Serengeti entdeckte und deren Schutz zu seinem Lebensziel erkor, ist Wilderei immer ein Problem geblieben. Nur die Akzente haben sich verschoben: Früher starben Tiere etwa Elefanten und Nashörner vor allem wegen der Jagdtrophäen; heute geht es den Wilderern fast ausschließlich um Nahrungsmittel. Der armen Bevölkerung rund um den Nationalpark erscheint die Serengeti ein einziger, prall gefüllter Fleischtopf. Zwei gegensätzliche Interessen prallen aufeinander, denn die Serengeti lässt sich nur auf eine der beiden Weisen nutzen: entweder als Nahrungsquelle oder für den Naturschutz.
Diese Konfliktlinie zieht sich durch viele Entwicklungsländer, wo Großschutzgebiete unter dem Druck wachsender Bevölkerungen stehen. „Die wichtigsten Reservate“, sagt Dr. Markus Borner, Ostafrika-Repräsentant der FZG, „sind identisch mit den potenziell besten Gebieten für Ackerbau.“ Im Fall der Serengeti wurde der Konflikt in der Vergangenheit gewaltsam ausgetragen. Sowohl auf Seiten der Wilderer, die sich bis an die Zähne bewaffneten, als auch unter den Rangern, die die Reservatsgrenzen verteidigen, gab es zahlreiche Tote. Doch seit einigen Jahren setzen die Naturschützer auf sanfte Strategien gegen die Wilderei. „Der Naturschutz muss sich viel mehr um die Menschen in seiner Nachbarschaft kümmern als um die Tiere im Park“, spitzt Borner das neue Konzept zu. In Randgebieten der Reservate, aber außerhalb deren Grenzen werden Wildlife Management Areas eingerichtet. In diesen Gebieten werden die Anrainerdörfer zu Managern der Tierbestände. Sie bekommen Quoten für „Entnahmen“ zugeteilt. Ob sie die Tiere selbst schießen oder Abschusslizenzen verkaufen, ob sie das Fleisch selber essen oder verkaufen, bleibt ihnen selbst überlassen. Die Quoten werden von Ökologen so festgelegt, dass die Bestände langfristig nicht dezimiert werden. Im Gegenzug erwarten die Naturschützer, dass die Dörfler die illegale Jagd von ihrem Boden aus unterbinden. So wurde ein einzigartiger Friedensvertrag für die Natur geschlossen.
„Wir werden erst in 20 Jahren wissen, ob wir es richtig gemacht haben“, sagt Markus Borner. „Aber wir haben keine Wahl: Alles, was wir jetzt machen, zielt auf Win-Win-Situationen, und das ist die richtige Richtung.
8. Friedensstifter verfügen über Empathie, sie können sich in die Denk- und Handlungsweisen, Zwänge und Interessen anderer Menschen einfühlen. Sie reagieren aufmerksam auf die Bedürfnisse ihres Gegenübers, setzen sich offen mit Fremdem und Bedrohlichem auseinander. Oft ersetzt Krieg Gespräche – Friedensstifter reden deshalb mit allen Parteien.
Zuhören ist einfach, denkt man. Einfach mal für eine Weile die Klappe halten! Aber erstens fällt das vielen Menschen extrem schwer, zweitens gibt es entscheidende Unterschiede zwischen passivem und aktivem Zuhören. Letzteres ist eine wichtige Eigenschaft erfolgreicher Konfliktschlichter. Sie hören ihrem Gegenüber aufmerksam zu, wobei sie auch die nicht-gesprochenen Botschaften aufnehmen, Mimik und Gestik beispielsweise. Durch ihre Fragen verschaffen sie sich ein genaues Bild von der Position des anderen: Welche Meinungen äußert er? Wovor hat er Angst, wonach sehnt er sich? In welchen Spielräumen kann er sich bewegen? Eine ausgeklügelte Technik der Fragegestellung dient dem Ziel, tiefer zu blicken, denn hinter vorgeschobenen Maximalforderungen verbergen sich oft die wahren Ziele eines Verhandlungspartners.
Sagt jemand „Das kann ich nicht?“ fragt ein aktiv Zuhörender zurück: „Was würde denn passieren, wenn du es doch tust?“ Behauptet jemand: „Die Gegenseite macht immer…“, fragt er zurück: „Gibt es Situationen, wo sie das nicht macht?“ Erklärt jemand kategorisch: „Das ist absolut zuviel“, fragt er: „Zuviel im Vergleich wozu?“ Jede Antwort, die weniger starr und dogmatisch ausfällt als die vorherige, zeigt dem Vermittler neue Anknüpfungspunkte für die weitere Verhandlung. Wichtig ist im Anfangsstadium, keine der Positionen und Gefühle, die auftauchen, zu bewerten oder gar zu verurteilen.
Empathie, die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, besitzen manche Menschen als Naturtalent. Doch dazu kommen andere Techniken, die erlernt werden müssen: Aktives Zuhören etwa. Eine Form der Kommunikation, die Transparenz und Klarheit bei allen Beteiligten schafft, ist eine weitere. Friedensstifter treten auf den Plan, um abgerissene Dialogfäden zwischen Kontrahenten neu zu knüpfen. Ihre Kunst besteht darin, aus Soldaten wieder Diskussionspartner zu machen. Das nötige Handwerkszeug dafür kann man erlernen. Etwa in einem vierwöchigen Intensivkurs im Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung in Schlaining.
Unter dem Titel „Peace Building“ werden den Teilnehmern Techniken vermittelt, wie man in Krisengebieten helfen kann, wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Die zentrale Frage: Wie schafft man Frieden? Welche Instrumente gibt es, damit die Gegner nach teils blutigem Aufeinanderschlagen den Hass überwinden und wieder in Dörfern, Städten und Regionen zusammenleben können? Das Studienzentrum, das unter anderem von der österreichischen und der deutschen Regierung finanziert wird, war 1993 weltweit das erste Institut, das einen solchen Ausbildungsgang einrichtete.
Hier trainieren Menschen, die in Krisengebieten arbeiten oder vor einer Entsendung stehen. Und weil sie aus allen Teilen der Welt stammen, entstehen schon aus der unterschiedlichen kulturellen Herkunft genug Konflikte für Trockenübungen. Eine dreiunddreißigjährige Pakistanerin etwa, die für eine lokale Hilfsorganisation in den Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan arbeitet, die einzige Frau in ihrem Volk, die studiert hat – sie outet sich nach einigen Tagen als eine glühende Anhängerin der Taliban: „Das sind noch wahre Muslime!“ – „Aber sie haben Osama Bin Laden gedeckt, der dreitausend Menschen in New York auf dem Gewissen hat“, erwidert ein Deutscher konsterniert. Die Pakistanerin antwortet: „Wer sagt das denn? Dafür gibt es keine Beweise“ – „Die Taliban haben Dieben die Hände abhacken lassen.“ – „Aber unter den Taliban konnte man ohne Angst vor Kriminalität leben. Nicht wie jetzt.“ Von null auf hundert, in wenigen Sekunden befindet sich der Kurs mitten im Konfliktmanagement. Sich mit subjektiven Wahrheiten auseinanderzusetzen – eigenen und fremden, ist die Voraussetzung für jedes Verstehen von Konflikten. Die Teilnehmer sind zu dieser Auseinandersetzung bereit, weil sie das Befremdliche nicht aus dem Munde von bärtigen Mullahs mit erhobenen Zeigefingern im Fernsehen hören, sondern von einem Menschen, den man seit einem geselligen Abend sympathisch und liebenswert findet.
Konzepte, die auf Gespräch und Einfühlungsvermögen gründen, ziehen immer weitere Kreise. Sie verändern sogar gesellschaftliche Bereiche, von denen man das am allerwenigsten erwartet hätte, beispielsweise die Polizei. Amerikanische Cops etwa sind eher für Draufhauen und Durchgreifen bekannt denn für feinfühliges Diskutieren. Doch wie die Erfolgsgeschichte des New Haven Police Departments (NHPD) zeigt, setzt auch hier ein Umdenken ein. Seit 1990 verfolgt die nördlich von New York gelegene Stadt ein neues Konzept, das „Community Policing“. Kerngedanke dabei ist, dass Streifenbeamte und Bürger enger zusammenarbeiten. Sie werfen ihr Wissen über die Bedürfnisse und Probleme der Gemeinde zusammen und entwickeln gemeinsam Lösungen. Das Spektrum der Delikte, die man sich anschaut, reicht von unerlaubtem Müllabladen bis zum Straßenhandel mit Drogen. Um von misstrauisch beäugten Polizisten zu echten Partnern zu werden, veränderte das NHPD die Ausbildung der Kadetten. Das herkömmliche Pflichtprogramm, von Sport bis Ermittlung, wurde ergänzt durch Kurse über „Die Fähigkeit des Zuhörens“, Seminare über die sozialen Probleme Jugendlicher und Besuche im Schulunterricht. Die Polizisten sollen nicht nur ihre Muskeln trainieren, sondern auch ihre sozialen Antennen. Die Streifenbeamten knüpfen Beziehungen zu möglichst vielen Vereinen und Gruppen in der Stadt und tauschen mit ihnen regelmäßig Informationen aus. Seitdem sich Polizei und Bürgerschaft einander angenähert haben, genießt das NHPD nicht nur ein netteres Image. Die Verbrechensraten, immer noch die Hauptsorge der Verantwortlichen, sind seit dem Schwenk erfreulich gesunken: innerhalb eines Jahrzehnts von 21000 auf 9300 angezeigte Delikte.
9. Friedensstifter bringen als neutrale Dritte Partei neue Perspektiven ein, können Kontrahenten mäßigen und auf gemeinsame Interessen hinweisen. Ihre Glaubwürdigkeit verdanken sie größtmöglicher Transparenz bezüglich der eigenen Motive und Fähigkeiten.
Wenn die Elena Gulmadova im Norden Mazedoniens neu in ein Dorf kommt, wird sie zunächst unauffällig ins Kreuzverhör genommen. Die Bewohner begegnen Fremden mit Misstrauen: Ist er Freund oder Feind? Die Leute checken sie ab, ob sie vielleicht für eines der beiden Lager heimliche Sympathien hegt. Die junge Frau überrascht sie mit dem Entree, dass ihr Vater Muslim, ihre Mutter Christin sei. Per Geburt ist sie die Neutralität in Person. In dieser Rolle muss sie sich immer wieder neu beweisen. Jeder Außenstehende steht unter dem Generalverdacht, eine der beiden Konfliktparteien zu bevorzugen.
„Transparenz ist wichtig,“ beschreibt Elena ihre Herangehensweise. „Ich informiere immer möglichst viele Organisationen, Behörden und Persönlichkeiten, mit wem ich gerade rede und was wir gemeinsam tun.“ Sie und ihre Kollegen protokollieren ihre Gespräche und Maßnahmen penibel. In Teamsitzungen und Supervisionen wird immer wieder die gleiche Frage diskutiert, an der sich der gute Ruf der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) und deren Akzeptanz durch die Menschen vor Ort entscheidet: Sind wir sicher, niemanden zu bevorzugen, keine Seite zu benachteiligen? Die Vermittler müssen jederzeit bereit sein, darüber Rechenschaft abzulegen. „Offenheit schafft Vertrauen“, sagt Elena Gulmadova, „sie ist dein wichtigstes Kapital, wenn du nicht zwischen allen Stühlen sitzen willst.“
Neutral zu bleiben ist komplizierter, als es klingt. Hat man 100 Euro wirklich gerecht geteilt, wenn man jeder Seite fünfzig Euro gibt? Was ist, wenn eine Bevölkerungsgruppe, etwa nach Ende eines Bürgerkrieges, mit größeren sozialen Problemen zu kämpfen hat als die andere: mehr kaputte Häuser, mehr Flüchtlinge, mehr hungernde Kinder? Muss für jedes Gespräch mit Partei A auch eines mit Partei B geführt werden? Was, wenn persönliche Sympathien das Gleichgewicht kippen? Die Antwort auf diese Fragen kann nicht in einem rigiden Regelwerk aus Geboten und Verboten für Mediatoren bestehen. Sie liegt vielmehr in weicheren Kompetenzen, die jemand in der Rolle als „Dritte Partei“ besitzen sollte: nach bestem Wissen und Gewissen handeln, offen sein für Kritik, klare Ansagen machen, von allen Seiten einsehbar vorgehen.
Die Schweiz macht es vor. Das Land paktiert mit nichts und niemandem, duldet keine fremden Mächte auf ihrem Territorium, lehnt gemeinsame Waffengänge ab, überlegt sich sogar eine Mitgliedschaft in der UNO mehr als 50 Jahre lang. Wer in Konfliktregionen gewissermaßen als „Schweiz“ auftreten will, muss mehr tun, als diesen Status nur zu reklamieren. Er muss ihn immer wieder verteidigen, wie das Beispiel der „Peace Zones“ auf den Philippinen zeigt. Die neutralitätswilligen Dörfer werden, inmitten einer durch und durch militarisierten Gesellschaft, von allen Seiten bedroht. Von Regierungssoldaten genauso wie von den Rebellen der „Islamischen Moro-Befreiungsfront“ (MILF). Beide Seiten suchen die Dörfer immer wieder heim und nehmen sich an Lebensmitteln und Benzin, was sie brauchen. Anschließend werden Dorfbewohner von der Armee beschuldigt, mit den Rebellen zu kollaborieren – oder von den Rebellen, mit den Soldaten zu paktieren.
Immer mehr Dorfgemeinschaften wehren sich gegen die bewaffneten Eindringlinge, 40 von ihnen erklärten sich zu „Zonen des Friedens“. Doch wie verteidigt man diesen Status gegen die Militärs? „Unsere einzige Waffe ist das Wort“, sagt Pater Bert Layson, der die Dörfer zu einem Netzwerk verbindet. Er verhandelt immer wieder mit Rebellen und der Armee, kennt die Handy-Nummern von Kommandantes genauso wie von Offizieren. Christen und Muslime arbeiten einträchtig in seiner Organisation, das verstärkt den Status der Neutralität. Direkt hinter seinem Büro im Konvent der Unbefleckten Empfängnis hat der Pater einen Gebetsraum für die Verneigung gen Mekka eingerichtet. Als besonders wirkungsvollerweisen sich die Patrouillen der von ihm gegründeten Waffenstillstands-Wacht. Pater Bert rüstete 60 Reisbauern mit Handys aus; sie melden jeden Verstoß gegen die Waffenruhe auf Mindanao per SMS an die Zentrale, wie eine effektive,menschliche Alarmanlage. Registrieren sie einen Überfall in einem Dorf, rücken Teams aus, die den Tathergang untersuchen und per Fotos und Film dokumentieren. In allen schwereren Fällen werden die Medien informiert – eine weitere Methode, um Licht ins auf Heimlichkeit angelegte Kriegsgeschehen zu bringen.
10. Friedensstifter kennen sich selbst. Deshalb schätzen sie ihre Möglichkeiten realistisch ein, haben ihre Emotionen im Griff, sind zu Selbstkritik fähig. Sie streben nach innerem Frieden. Aufgrund einer gefestigten eigenen Identität und ihrer Lebenserfahrung können sie sich konstruktiv mit anderen auseinandersetzen.
„Ich kenn´ mich doch!“ Ein großer Satz, gelassen ausgesprochen. Denn wer kann eigentlich guten Gewissens von sich behaupten, wirklich zu wissen, wer er ist? Mit Menschen ist es wie mit dem Meer: Wir bewegen uns meist an der Oberfläche, doch das wahre Leben spielt sich unter der Oberfläche ab, in den Tiefen. Dort, wo man selten hinsieht, sammeln sich unsere geheimen Wünsche, verborgenen Motive, nie zugestandenen Begierden, verdrängten Ängste. Das Wissen über diese Tiefen ist eine der wichtigsten Grundlagen für Empathie überhaupt. Als Daumenregel gilt: Je besser man sich selbst versteht, desto besser kann man sich in andere einfühlen.
Dieser Zusammenhang gilt auch umgekehrt. Psychologen haben beobachtet, dass Konflikte zwischen Menschen immer dann eskalieren, wenn die Beteiligten wenig über ihre eigene Persönlichkeit wissen. Das liegt daran, dass sich die Streitpunkte, die auf dem Tisch liegen, nicht konstruktiv bearbeiten lassen, wenn es eine „verborgene Agenda“ gibt, wenn die Beteiligten Ziele und Wünsche haben, von denen sie selbst nicht einmal etwas ahnen. Ein Beispiel aus dem Arbeitsalltag: Ein Angestellter kommt zu seinem Chef und fordert eine Gehaltserhöhung. Der Chef lehnt ab: „Die aktuelle konjunkturelle Lage… müssen alle sparen… das geben die Gewinne nicht her…“ Doch der Angestellte beharrt auf seiner Forderung: „Die gestiegenen Kosten… die Familie… gute Leistungen in den vergangenen Jahren…“ Unvereinbare Gegensätze, so scheint es.
Matthias Schranner, der fast 20 Jahre lang für die Polizei bei Geiselnahmen die Verhandlungen führte, hat jedoch die Erfahrung gemacht, dass es selten nur um die Sache geht, in diesem Fall Geld, die offiziell zur Debatte steht. „Wenn nur rationale Argumente zählten, warum würden Menschen immer wieder Geiseln nehmen, wo es doch bislang keinen erfolgreichen Fall gab?” In Wirklichkeit geht es den Gangstern um Aufmerksamkeit, um soziale Anerkennung. Das gleiche Motiv, so Schranner, kann sich hinter der Forderung nach einer Gehaltserhöhung verbergen. Sie ist möglicherweise ein Ausdruck dafür, dass ein Mitarbeiter sich und seine Arbeit nicht geschätzt fühlt, dass er sich über einen arroganten Kollegen ärgert, der mehr verdient, oder einfach nur vom Chef anerkannt und beachtet werden will. In diesem Fall könnte ein schnellerer Rechner oder ein größeres Büro den Mitarbeiter vielleicht sogar glücklicher machen als ein finanzieller Bonus – und schon löst sich der starre Frontverlauf zwischen Chef und Angestelltem auf. „Verhandeln Sie nie eine Forderung, sondern immer die Motive”, rät Schranner.
Dazu muss man sich jedoch in die Beweggründe des anderen einfühlen können – womit wir wieder beim psychologischen Wissen wären, das jeder erfolgreiche Konfliktlöser braucht. Seine Fähigkeit zur Selbstreflexion schließt ein, die eigene Rolle in Gruppen richtig einschätzen zu können. Bin ich der Leitwolf, der alles an sich reißt? Oder das Mauerblümchen, das mitmacht und sich anpasst? Die Diplomatin, die gern beschwichtigt? Der Kontroletti, der andern nie vertraut und deshalb jeden ihrer Schritte überwachen möchte? Der Typ Liebkind-mit-allen, der es in seiner Harmoniesucht allen recht machen möchte? Sobald ich meine Verhaltensmuster kenne, verlieren sie ihre manipulative Macht über mich.
Illusionen über sich selbst existieren nicht nur auf der persönlichen Ebene, sie geistern auch durch ganze Gesellschaften. In welche Konfliktregionen die Peace Counts-Reporter auch reisen, wen sie auch befragen: Sie treffen immer nur Opfer! Und nicht wenige dieser Opfer sind bis an die Zähne bewaffnet. In Nordirland begegnen sie nur Katholiken, die unter den Angriffen der Protestanten gelitten hatten, und Protestanten, die sich von der IRA terrorisiert fühlten. Israelis deuten auf die Zivilisten, die zu unschuldigen Opfern von Selbstmordattentaten werden, Palästinenser sehen sich als ohnmächtig Unterdrückte der israelischen Militärdiktatur. Je weiter ein Konflikt zurückreicht, desto krasser werden die Verzerrungen: Überall nur Opfer, keine Täter weit und breit zu sehen!
Der spirituelle Lehrer OM C. Parkin sagt: „Menschen mit reinem Opferbewusstsein sind nicht erkenntnisfähig, nicht einsichtig in das Wesen der Dinge.“ Unter anderem verkennen sie, dass sie früher oder später ihren Status als Rechtfertigung ausnutzen, um selbst zuzuschlagen. Manchmal als Verteidigung bemäntelt, manchmal offen als Rache deklariert. „Der Schwächere wird zum Täter, sobald er sich stärker fühlt; dann nutzt er seine Stärke und übt selbst Gewalt aus. Grausame Momente geschehen nicht plötzlich und nicht zufällig,“ meint Parkin, „sondern sie haben eine Geschichte innerer Gewaltprozesse.“
Der Opferstatus ist heiß begehrt. Wer seine Anerkennung durchsetzt, hat es geschafft: Er gehört zu den Guten, er trägt keine Verantwortung für das, was geschieht. Das zahlt sich auch international aus, wenn es um die Verteilung von politischer Unterstützung und Hilfsgeldern geht: alle Sympathie den Opfern.
Wo sich die Kriegsbeteiligten über ihre tatsächliche Rolle hinwegtäuschen, wird es um so wichtiger, dass Friedensmacher, die als Dritte Partei eingreifen, sich selbst richtig einzuschätzen wissen, die eigenen Motive und Bedürfnisse, Stärken und Schwächen. Und dass sie diese Fähigkeit zur Selbsterforschung weitergeben. Bei einer Schule der besonderen Art steht diese Fähigkeit sogar auf dem Stundenplan. Eine halbe Autostunde von Jerusalem entfernt liegt der Ort Neve Shalom/Wahat al-Salam. Vor dreißig Jahren entschlossen sich zwanzig jüdische und zwanzig arabische Familien, der Welt zu zeigen, dass die beiden Volksgruppen friedlich zusammen leben können. Sie machen vor, wie sich Macht fair teilen lässt und Integration möglich ist, ohne dass eine Seite ihre Identität verleugnen oder aufgeben muss. Ein ganzes Dorf als Oase des Friedens.
Und siehe da, das Modell funktioniert. Misstrauisch beäugt von den Nachbargemeinden, aber als lebendige Gemeinschaft. Eines ihrer Projekte, das weltweit beachtet wird, ist die dorfeigene School for Peace. Sie bringt junge Israelis und Palästinenser aus dem ganzen Land in so genannten encounter groups zusammen. Diese Begegnungs- und Diskussionsgruppen unterscheiden sich wohltuend von der vielerorts praktizierten Friedensfolklore mit ihren telegenen Ritualen: Camps mit Jugendlichen beider Seiten, die zusammen kochen, basteln, Fußball spielen und Lieder singen, Momente der Harmonie, die gut aussehen, Ahmed und Ariel Arm in Arm, so was lässt sich den Sponsoren gut verkaufen. Allein: Nach dem Ende solcher Veranstaltungen kehrt Ariel vielleicht nach Tel Aviv zurück und genießt das Strandleben, während Ahmed weiter in seinem staubigen Dorf in der Westbank lebt. Friedensfolklore verdeckt den Konflikt für einen Moment, löst ihn aber nicht.
Ganz anders die Methodik der School for Peace. Die Kurse zielen darauf, den Jugendlichen im ersten Schritt deutlich zu machen, worin die kulturellen und sozialen Unterschiede zwischen ihnen bestehen. Das Trennende wird bewusst gemacht, diskutierend und provozierend, oft tränenreich und schmerzlich. „Aber nur Menschen, die sich ihrer Identität bewusst sind, können offen auf Menschen mit andersartigem Wesen zugehen“, sagt Nava Sonnenschein, die Direktorin. Im zweiten Schritt lernen die Schüler, dass es gar nicht darum geht, ob Ariel und Ahmed sich persönlich mögen oder nicht. Das ist schwierig zu vermitteln, denn es widerspricht einer alltäglichen Erfahrung: „Unser Gefühl sagt uns, Menschen müssten sich nur richtig kennenlernen, um Hass und Vorurteile abzubauen,“ erklärt Sonnenschein, „doch Verständnis und Mitgefühl allein können Konflikte zwischen Gruppen nicht lösen.“
Stattdessen vermittelt die Schoool for Peace, dass Gewalt strukturelle Ursachen hat – wirtschaftliche, politische, kulturelle und historische –, die weit über die persönliche Ebene hinausgehen. Erst im dritten Schritt, dem „kritischen Dialog“, versuchen die Israelis und Palästinenser Gemeinsamkeiten zu finden und Visionen für den Frieden zu entwickeln, die sie für machbar halten.
Eine harte Schule, das gibt Nava Sonnenschein zu, „aber diese Begegnungen verändern die jungen Leute dauerhaft, das zeigen wissenschaftliche Langzeitstudien.“ Delegationen aus anderen Konfliktregionen besuchen Neve Shalom/Wahat al-Salam, nordirische Katholiken und Protestanten treffen sich, Weiße und Schwarze aus Südafrika, griechische und türkische Zyprioten. 35.000 Teilnehmer haben die School for Peace schon durchlaufen, 400 Menschen bekamen eine Ausbildung als Moderator und arbeiten heute in Friedensprojekten in Israel und dem Ausland. Auf diese Weise wird aus der Friedensschule ein fliegendes Klassenzimmer, das seine Methode weltweit exportiert.
Peace is possible
Jeder Mensch sehnt sich nach Frieden. Jeder will in stabilen, sicheren Verhältnissen leben, jeder wünscht sich inneren Frieden, die vollkommene Seelenruhe. Von dieser Sehnsucht sind all die heimlichen Helden getrieben, die sich als Mitglieder der Zivilgesellschaft für stabile und demokratische Verhältnisse in ihrer Heimat engagieren. Doch warum, lautet der berechtigte Einwand, gelingt es angesichts dieser universal gültigen Sehnsucht nicht, den Krieg komplett abzuschaffen? Das liegt an gegenläufigen Kräften, mit denen sich Friedensmacher konfrontiert sehen und die sich auf eine „6P-Formel“ bringen lassen:
– Profitgier – sich das Eigentum anderer einverleiben wollen: Jenseits des Gartenzauns ist das Gras immer grüner…
– Panik – tiefliegende Ängste vor dem Anderen, Fremden.
– Profilierung – Krieg ermöglicht Karrieren, schafft neue Eliten.
– Propaganda – einseitige Information verzerrt die tatsächliche Interessenlage.
– Politkalkül – Parteifunktionäre heizen Konflikte für strategische Vorteile an.
– Primitivität – Dummheit lässt sich ebenso wenig ausrotten wie Krieg.
Unter anderem aus diesen Gründen ist es der Menschheit bisher nicht gelungen, den „ewigen Frieden“ zu schaffen. Wenn man jedoch den „kleinen Frieden“ zum Maßstab für den Erfolg der Engagierten nimmt, sieht die Lage gar nicht so schlecht aus. Die Zahl der bewaffneten Konflikte ist in den vergangenen Jahren leicht gesunken. In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten, so rechnet die kanadische Organisation Ploughshares vor, wurden Konflikte in 35 Staaten beendet; ihre Liste nennt unter anderem Ost-Timor, Mosambik, Namibia, Südafrika, Peru, Ecuador, El Salvador, Türkei, Nordirland, Tadschikistan und Vietnam. Jedes dieser Länder sorgte während der Kampfhandlungen für Schlagzeilen; als jedoch der Frieden gelang, zog die Karawane der Kriegsreporter weiter.
Peace is possible! Auf diesen kurzen Nenner lässt sich das Ergebnis der weltweiten Expedition Peace Counts bringen. In all jenen Gebieten, die in den Abendnachrichten nur als Brennpunkte vorkommen, trafen die Reporter Menschen und Initiativen, die für das andere: für optimistisches Engagement und konstruktive Lösungen, für Mut, Kreativität und Intelligenz.
Früher wurden uns als Vorbilder für Frieden immer historische Gestalten wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King und Mutter Teresa empfohlen. Doch der Effekt war zwiespältig, weil sich in die Bewunderung gleich der Zweifel mischte: Das sind absolute Giganten, nie werde ich nachmachen können, was sie vorgemacht haben! Anders die Erfolgsgeschichten, die im Rahmen von „Peace Counts“ erzählt werden. Sie handeln von anfassbaren Menschen mit Adresse, Telefonnummer und E-Mail-Adresse, und ihre Botschaft lautet: Man muss weder Heiliger noch Held sein, um sich zu engagieren. Frieden ist machbar! Und seine Macher sind Menschen.
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Erschienen (in leicht abgeänderter Form) in Petra Gerster, Michael Gleich: „Die Friedensmacher“, Hanser Verlag 2005.