Eine Oase im Geisterland
Text von Michael Gleich
Fotos von Paul Hahn
Ein blutiger Bürgerkrieg hat den Norden Sri Lankas zerstört. Dort erfindet ein Tamile mit deutschem Pass zum zweiten Mal sein Leben neu. Weil der Frieden nur gedeiht, wenn es auch wirtschaftlich voran geht, verwirklicht er vorbildlich eine Art Aufbau Nord. Mit dabei sind 14 Taubstummenlehrer, jede Menge Häuslebauer, eine Plantage Ökobananen und zwei Pfauen.
Der Norden ist Geisterland. Kilometerweit kein Mensch zu sehen zwischen den Ruinen. Häuserwände wirken wie verwundete Haut, übersät von den tiefen Löchern und Narben, die einschlagende Granaten hinterließen. Fensterhöhlen glotzen blind. Die Dachziegel hat der Feuersturm der Mörserkanonen zertrümmert, ein Hurrikan die Reste von den verkohlten Balken gefegt. Kuhherden irren hirtenlos über Wiesen, deren Sattgrün ein tödliches Geheimnis überdeckt: Minen. Anderthalb Millionen sind im Boden vergraben. Sie lassen die heiligen Kühe leben, Sarkasmus des Krieges, sie explodieren nur, wenn das Bein eines Menschen spezifischen Druck auslöst und zerfetzen es. Deshalb sind die Dörfer verlassen. Ein Fahrradskelett, eine bröckelige Steinbank: Klettergewächse überwuchern Relikte in Rekordzeit. Über all die Bomben, die Toten, die große Vertreibung deckt die Natur ein grünes Leichentuch. Tröstliche Tropen.
Singham gilt als politischer Aktivist und leidenschaftlicher Überzeugungskünstler
Rohini Narasingham geht ins Geisterland, als der Krieg noch tobt. Er kommt aus Berlin. 15 Jahre lang hat er hier gelebt, die Hälfte seines Lebens. Seine Freunde nennen ihn Singham. Wuchernder Vollbart, schmale Gestalt, einen Kopf kleiner als der durchschnittliche Deutsche. Er gilt als politischer Aktivist und leidenschaftlicher Überzeugungskünstler. Einer aus Sri Lanka, der es geschafft hatte. Deutscher Pass, deutsche Frau, Leben im heimeligen Kiez in Kreuzberg „mit U-Bahn, Vollkornbrot und Sozialversicherung“. Sozusagen ein Karriere-Flüchtling. 1995 fasst er den Entschluss, ins Krisengebiet in den Norden seiner heimatlichen Insel zu reisen. Nicht als Besucher, sondern um zu bleiben. Warum, fragen ihn seine Freunde, dieser Abschied ins Ungewisse? Ob er verrückt geworden sei, fragen sie ihn. Es hat mit einem „A“ zu tun. Mit Kindern wie der kleinen Ravindran, die versucht, diesen Laut hervorzubringen. „A“ wie Amma, Mutter. Noch kommen akustische Querschläger, reißen mal in hohes Kieksen aus, mal in dumpfes Gurgeln. Die 14jährige versucht, den Vokal zu treffen, den ihre Lehrerin vorspricht. Sie kann diesen Vokal nicht hören. Nur sehen. Und ertasten. Sie starrt auf den Mund ihres Gegenübers, ahmt dessen Wölbung nach, befühlt den Kehlkopf, spürt die Vibrationen, schickt solange neue Töne in die Luft, bis die Lehrerin sie lobt. Bis Ravindran „Amma“ sagen kann, werden noch Wochen vergehen. Aber jeder neu gelernte Laut führt heraus aus der hermetischen Welt des Lautlosen.
Ravindran geht in eine Schule für Taubstumme, deren Lehrer von SEED bezahlt werden, der Organisation Social, Economic and Ecological Developers. Die „Sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Entwickler“ hat Singham nach seiner Rückkehr gegründet. In Vavuniya, einer Kleinstadt 250 Kilometer nördlich der Kapitale Colombo, sind mittlerweile 40 Angestellte und 20 Freiwillige dabei. Ihr Arbeitsfeld ist der Norden Sri Lankas, das Geisterland. Die Region leidet besonders stark unter den Folgen eines blutigen Bürgerkriegs, der 1983 begann und 20 Jahre dauerte. Ausgefochten zwischen der tamilischen Befreiungsbewegung LTTE im Norden und der srilankischen Regierung, kostete er rund 70 000 Leben, trieb anderthalb Millionen Menschen in die Flucht und warf das Land wirtschaftlich um Jahrzehnte zurück. Zerstörte Dörfer, verwundete Seelen.
„Viele Behinderte vegetieren ihr ganzes Leben lang in einer dunklen Hütte.“
Auch die meisten der 65 taubstummen Schüler sind Kriegsopfer. Sie haben Vater oder Mutter oder beide verloren. Kinder, die nicht hören und sprechen können, bleiben in Zeiten von Hunger und Flucht als erste auf der Strecke. „Viele Behinderte vegetieren ihr ganzes Leben lang in einer dunklen Hütte“, weiß Singham. Die 14 Lehrer der Schule bringen eine Spezialausbildung in Gebärdensprache mit. Und, noch wichtiger, eine unermüdliche Geduld. Sie versuchen, die Kinder aus ihrer Isolation zu holen, indem sie auch deren Verwandte unterrichten. So wächst der Kreis derer, mit denen sie „sprechen“ können, wachsen Bewegungsräume. Wie bei Ravindran. Sie ist der Stolz der Schule, bei einem nationalen Leichtathletik-Wettkampf gewann sie über 200 Meter die Goldmedaille.
Aufbau Nord. Das Konzept von SEED ist es, die Lebensbedingungen in möglichst vielen Bereichen zu verbessern. Wirtschaft und Seele sollen gleichermaßen gesunden. Neben der Schule wurden Siedlungen für einige hundert Kriegswitwen und deren Familien gebaut: komplett mit Häusern, Gärten und Brunnen, mit Dorfläden und einem Gemeindehaus. Die Organisation berät die Bewohnerinnen, wie sie mit Heimarbeit Geld verdienen können, ohne ihre Kinder allein lassen zu müssen. Kümmert sich um Straßenkinder, um die sich sonst keiner kümmert. Und hat eine zwei Hektar große Musterfarm angelegt, auf der ökologische Landwirtschaft erprobt wird. Seed heißt Saat, und in Vavuniya fällt sie auf fruchtbaren Boden. Neben ihren langfristigen hat die Organisation aber auch bewiesen, dass sie sehr schnell handeln kann, wenn eine akute Notlage eintritt. Nach der Flut von Weihnachten 2004 engagierte sie sich in der Hilfe für die Opfer. Über das Netzwerk von Unterstützern in Deutschland wurde Geld gesammelt und unbürokratisch an der Ostküste der Insel eingesetzt, um die Folgen des Tsunamis zu lindern. Das Vertrauen, dass sich SEED über die Jahre erworben hatten, zahlte sich aus.
Ausländische Hilfsorganisationen, darunter auch die Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, beobachten aufmerksam die Erfolge von Singhams Konzept. Sie bieten ihm Kooperation und Geld an, um das Modell in großem Maßstab zu vervielfältigen. Doch der Sämann bleibt reserviert: „Wir wollen nicht wachsen, jedenfalls nicht um jeden Preis.“
Den deutschen Pass bekam er nur, weil er eine Deutsche heiratete
Abhängig zu werden wäre für Singham ein zu hoher Preis für mehr Möglichkeiten. Seine Skepsis erklärt sich aus seiner wechselvollen Biographie, aus den Mäandern einer Migration von Ost nach West und zurück, aus Flüchtlingsgefühlen von Ohnmacht und Unsicherheit. Die erste Neuerfindung Rohini Narasingham: Als 18jähriger floh er vor den zunehmenden Gewalttaten gegen Tamilen aus Jaffna, der Hauptstadt des Nordens. In Berlin stellte er einen Antrag auf politisches Asyl. Elf Jahre lang kämpfte er um die Anerkennung. Vergeblich. Schließlich bekam er den deutschen Pass. Aber nur, weil er eine Deutsche heiratete. Neben die Erfahrung, einem juristischen Verfahren ausgeliefert zu sein, trat die Überraschung, „dass sich viele Menschen für mich eingesetzt haben, obwohl sie mich nicht einmal persönlich kannten“. Er revanchierte sich, indem er ehrenamtlich Ausländer in Rechtsfragen beriet.
Der Mauerfall bedeutete auch für Singham eine Wende. In Berlin und Umgebung nahm die Gewalt gegen Ausländer zu. Brandanschläge auf Asylbewerberheime, Morde an Afrikanern. „Fidschis klatschen“ nannten es die Neonazis. Singhams schwarze Haut und sein politischer Aktivismus machten auch ihn zur potentiellen Zielperson. „Wenn ich schon mein Leben riskiere,“ sagt er sich, „dann nicht passiv, nur weil meine Haut eine bestimmte Färbung hat. Dann schon lieber, indem ich etwas für mein Land tue.“ Doch Sri Lanka ist für ihn tausende Kilometer und auch kulturell unendlich weit entfernt. Er hat sich im Berliner Biotop eingelebt. Eine Kommune mit 16 Leuten, die zusammen kochen, WG-Diskussionen nächtelang. Das Brot kommt aus dem Bioladen, der Käse von glücklichen Kühen, die U-Bahn pünktlich. Grünes Leben in der Großstadt. Das aufzugeben fiel nicht leicht. Einiges vom alternativen Gedankengut hat er herübergerettet und bei SEED eingepflanzt. Als er Mitte der Neunzigerjahre in Vavuniya begann, den Bau von Häusern für Kriegswitwen zu organisieren, „ging es mir nicht nur um Ergebnis und Effizienz, sondern vor allem um den Prozess, um den Weg, wie wir zum Ziel gelangen“. Eine für srilankische Verhältnisse exotische Unternehmenskultur prägt die Organisation. Teamgeist, offene Diskussion, keine männliche Vorherrschaft in der Gruppe, jeder putzt mal das Büro. Der Kreuzberger Kiez lässt grüssen.
„Mit unserer westlichen Vorstellungen hätten wir total falsch geplant,“
Das Startkapital für den Landkauf hatte eine Berliner Unterstützergruppe gesammelt. Zunächst sollte eine örtliche Partnerorganisation gefunden werden, das übliche Vorgehen bei Entwicklungsprojekten. „Doch die Suche war frustrierend“, erinnert sich Singham. „Die meisten Gruppen waren einseitig religiös ausgerichtet. Oder sie betrieben einen peinlichen Personenkult um ihren Vorsitzenden.“ 28 Mal. So oft hat er sein Konzept präsentiert, genauso oft ist er bei Organisationen abgeblitzt. „Letztlich war das gut so. Mir wurde klar, dass wir etwas Eigenes gründen müssen.“ Er zerriss das Strategiepapier, das er in Berlin geschrieben hatte.
Statt dessen entschied er sich für eine Methode, die jeden hoch dotierten Entwicklungsexperten befremden würde. Um herauszufinden, was die vom eigenen Land Vertriebenen wirklich brauchen, lebte er Monate lang mit ihnen in einem Lager. Er bezog eine Lehmhütte, ohne Strom. Wasser holte er vom weit entfernten Brunnen, eben wie alle anderen. Sri Lanka von unten. Er bekam einen Leberschaden, Malaria, hatte Blut im Stuhl. Wieder war er Flüchtling, nun im eigenen Land. Aber er fand heraus: Wie wollen die zukünftigen Hausbesitzer ihre Küche, was versteht eigentlich eine Großfamilie unter „Schlafzimmer“, wie sieht ein idealer Essplatz aus. „Mit unserer westlichen Vorstellungen hätten wir total falsch geplant,“ sagt Singham. Das deutsche Geld, so wusste er, würde für zehn Häuser reichen. Als SEED das Vorhaben ausschrieb, meldeten sich jedoch mehr als 850 Familien. „Wir haben uns die Zeit genommen, mit jeder einzelnen zu reden. Manchmal konnte ich abends nur noch heulen. Fürchterlich war das, was mir die Leute erzählten, von Getöteten und Verschwundenen, von Gefolterten und Vergewaltigten.“ Geschichten, die ihn nicht losließen. Willst du mal Heli fliegen? hatten die Armeesoldaten eine Gefangene gefragt. Sie hatten ihre Füße mit einem Strick zusammen gebunden und sie daran aufgehängt. Dann hatten sie den Körper rechts und links gegen die Wände der Zelle geschleudert. Den Boden hatten die Folterknechte mit Glasscherben und scharfkantige Patronenhülsen ausgelegt. Irgendwann war der Strick gerissen, „safe landing“ hatten die Soldaten das genannt. Traumatische Tropen.
„Zum ersten Mal musste ich über andere Schicksale entscheiden.“
Für alle wollte Singham etwas tun, alles heilen. Schlimm war für ihn deshalb, nur zehn auszuwählen und damit 840 abzulehnen. „Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich über andere Schicksale entscheiden.“ Im Team wurde beschlossen, landlosen Familien, mit Behinderten oder besonders kinderreich, den Vorrang zu geben. Nachvollziehbare Kriterien, die das Gewissen entlasten sollten. Gemeinsam rodeten das SEED-Team und die zukünftigen Bewohner ein Stück Dschungel. Sie trugen Holz und Steine auf dem Rücken zur Baustelle, installierten eine Wasserpumpe, die eine Flüchtlingsorganisation gestiftet hatte. Geschützfeuer ganz in der Nähe unterbrach immer wieder die Arbeit. Die Kämpfe zwischen den Tamil Tigers und der srilankischen Armee waren wieder aufgeflammt, die Frontlinie wanderte ständig. Mal kamen die Granaten von links, mal von rechts. Stille war unheimlich, weil unberechenbar.
„Damals entstand in mir so etwas wie ein Vaterinstinkt: Ich, Singham, sorge für Witwen und Waisen. Falsch, das ist völlig falsch. Wir wollen nicht ihre Beschützer werden. Besser ist es, ihnen zu helfen, selbstständig zurechtzukommen.“ Schon bald nach dem Richtfest begannen die Frauen, Gemüse und Bananen auf ihren Grundstücken anzubauen, verdienten sich mit Seilflechten ein kleines Einkommen. Keine langfristigen Abhängigkeiten: Was für Singhams eigenes Leben gilt, formuliert er auch als Prinzip für SEED. Nach dem ersten erfolgreichen Projekt entstand ein zweites für 65 Familien, derzeit sind ein drittes und viertes für jeweils 270 Familien in Bau. Also doch Wachstum? „Mittlerweile gibt es im Team zehn andere, die die Arbeit genauso gut machen wie ich“, sagt Singham. „Wir können erweitern, ohne an Qualität zu verlieren.“
Und der Bedarf ist riesig. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass auf der Insel noch 700000 Vertriebene in Lagern leben oder im Land umherirren. Fast täglich werden Minenopfer gemeldet. Dazu die seelischen Verwundungen. In der Region nördlich von Vavuniya waren 97 Prozent der Kinder Zeugen traumatisierender Ereignisse, Bombardements, Brände oder Tötung von Verwandten. Ein Viertel von ihnen leidet dauerhaft unter den psychischen Folgen der Traumata. Doch gibt es im gesamten Norden und Osten der Insel, den vom Bürgerkrieg am schwersten betroffenen Gebieten, vielleicht drei Psychiater, die solche seelischen Störungen erkennen und behandeln können. Traumatisierte Tropen.
Wenn die Ladung in Jaffna ankommt, ist sie vier Mal gesiebt worden
Auch die wirtschaftliche Gesundung wird Generationen dauern. Besonders bremst die Zweiteilung der Insel. Im Waffenstillstand von Februar 2002, der bis heute hält, wenn auch wackelig, wurden den Tamil Tigers Gebiete zugesprochen, die sie militärisch und zivil kontrollieren. Damit wurde ein einzigartiger Bürokratie-Zirkus begründet, dessen kuriose Exzesse wenige Kilometer von Singhams Haus zu besichtigen sind. Lastwagen, die nach Norden wollen, werden zuerst von den Soldaten der srilankischen Armee gestoppt. Sicherheitskontrolle! Unter bewaffneter Aufsicht müssen die Fahrer die Fracht komplett ausladen. Sand, Farbeimer, Dachpfannen oder Kokosnüsse, egal. Ein Heer von Hilfsarbeitern steht bereit, um gegen gute Rupien anzupacken.
Nach Stunden, wenn alles ausgeladen ist, nickt der Soldat, und alles wird wieder hineingeschaufelt. Der Lkw fährt durch 100 Meter entmilitarisierter Zone und gelangt zum Checkpoint der Tamil Tigers. Die gleiche Prozedur: Sand rausschaufeln, Tiger nickt, Sand reinschaufeln. Dann durchquert der Lkw das Gebiet der LTTE, um an dessen Nordgrenze noch zweimal das Ein-Aus-Spiel zu wiederholen. Sisyphos auf srilankisch. Wenn die Ladung in Jaffna ankommt, ist sie vier Mal gesiebt worden. Hochsicherheitssand der Extraklasse.
Singham erinnert die Prozedur fatal an Checkpoint Charlie, an die steinernen Gesichter von Volkspolizisten, die ernste Miene zu merkwürdigen Kontrollspielen machten. Er würde gerne darüber lachen, nur: „Unsere Wirtschaft werden wir auf diese Weise nicht flott kriegen.“ Zwei Jahrzehnte lang gaben Regierung und Rebellen Milliarden Dollar für Rüstungsgüter aus und zerstörten damit planvoll Straßen und Schulen, Brücken und Brunnen. Das Geld fehlt jetzt an allen Ecken. Für SEED bedeutet das, zunächst für das Nötigste sorgen: ein Dach über dem Kopf, sauberes Wasser, gesunde Nahrung.
In seiner Person verschmelzen Kreuzberger Kommune und srilankischer Pragmatismus
Damit hat die Organisation zwar alle Hände voll zu tun. Aber Singham denkt schon über die nächste Phase nach. Er, der das „Prinzip Durchwurschteln“ angesichts täglich neuer Widrigkeiten perfektioniert hat, lebt auf, wenn seine Visionen ehrgeiziger werden, wenn Pläne abheben, Ideen fliegen. „Sri Lanka, glückliches Lanka – das wird wieder. Schließlich haben Tamilen und Singhalesen hunderte von Jahren friedlich zusammen gelebt. Wir dürfen uns nur nicht manipulieren lassen, von Politikern, die Menschen in Kriege hetzen,“ sagt Singham und malt mit ausgreifenden Gesten Bilder in die Luft. „Aber dazu müssen wir etwas lernen, was hier zu Lande fast unbekannt ist: offen diskutieren und sich eine eigene bilden.“
In seiner Person verschmelzen Kreuzberger Kommune und srilankischer Pragmatismus. Ein Amalgam, aus dem sich ungewöhnliche Modelle formen lassen. Etwa der Ökobauernhof, eine grüne Oase mitten im Geisterland. Im milden, sanftroten Abendlicht wird die Farm zu einem visionären Ort, der spüren lässt, wie fruchtbar und friedlich Sri Lanka sein kann. Seit die eigenen Brunnen Wasser liefern, gedeiht, was als Same in die Erde gesteckt wurde: Banane, Papaya, Ananas, Mango, Spinat, Kohl, Bohnen, Maniok. Bei der Vermarktung arbeiten die Tamilen mit einer singhalesischen Gruppe zusammen. SEED liefert Früchte in den Süden, von dort kommen Biotee und ?gewürze. Die offizielle Feindschaft wird ignoriert. Gegenseitiges Gewinnen. Die Abfälle der einen Pflanze befruchten das Wachstum der anderen, Regenwürmer werden in Dienst gestellt, um aus Erde Dünger zu machen. Deutsche Schäferhunde, australische Langohrziegen und indische Perlhühner wuseln durcheinander, ein animalisches Multikulti. Zwei Pfauen stolzieren auf einem Palmblätterdach herum. Wofür sind die gut? „Die,“ sagt Singham, „sind einfach nur schön“. Eine kopfstarke Kommune ist entstanden. Singhams Frau und seine Schwiegermutter gehören dazu, Freunde, Farmarbeiter und quasi Adoptierte. Alle unter einem Dach, möglichst viel Leben auf engem Raum. So hat es sich Singham immer gewünscht, seit Berliner Zeiten: die Groß-WG auf dem Lande. Kein Motorenbrummen weit und breit. Traumhafte Tropen. Ein Ort der Harmonie. Außen. Doch in den Köpfen der Farmbewohner sieht es anders aus. Es wird noch lange dauern, vielleicht generationenlang, bis das Grollen der Granaten verstummt, die Brände verlöschen, das Dröhnen der Tiefflieger verhallt. Bis es innen drin leiser wird, still.
Update Frühjahr 2009
Konflikt:
Der Waffenstillstand von 2002 ist außer Kraft. Aus einzelnen Attentaten der LTTE, die für einen unabhängigen Norden kämpft, und einzelnen Angriffen der Regierungstruppen ist ein ausgewachsener Krieg geworden. Zehntausende Zivilisten sind auf der Flucht. Tamilen wurden aus Colombo vertrieben.
Projekt:
Unsere Recherchen im Projekt SEED von Singham liefen zu einer Zeit, als relative Ruhe im Land herrschte. Seitdem hat sich die Lage im Distrikt Vavuniya ständig verschlechtert. Dennoch hat sich SEED stark für die Opfer des Tsunamis an Weihnachten 2004 engagiert. Peace Counts rief zu Spenden auf und konnte SEED innerhalb weniger Tage mehr als 12 000 Euro überweisen. Singham hat in der Zwischenzeit einen Aufbaustudiengang in Konfliktbewältigung in England besucht; in den drei Monaten dort musste er ständig um das Leben seiner Frau und seines Kindes daheim fürchten. Im Februar 2007 war Peace Counts on Tour zu Gast in Sri Lanka und zeigte die Ausstellung plus Workshops für Pädagogen und Journalisten. Bei der Eröffnung sagte Singham, es sei noch schwieriger geworden, gemeinsame Projekte von Tamilen und Singhalesen zu betreiben. Für die Peace Counts Ausstellung durfte in Colombo, wo die Armee auf den Straßen massiv präsent war, nicht geworben werden. Das Wort „Peace“ ist hochpolitisch geworden, seit die Regierung darunter versteht: Wir zerbomben die LTTE – dann herrscht Frieden. Für Singham kommt Aufgeben nicht in Frage. Er fühlt sich und seine Familie und Mitarbeiter allerdings stark gefährdet.