Die Mörder sind wieder unter uns

Ruanda
Text: Markus Wanzeck
Fotos: Eric Vazzoler

Seit dem Völkermord von 1994 ist Ruanda eine verwundete Nation. Eine kleine Organisation versucht, Opfer und Täter miteinander zu versöhnen

Der Kreis ist quadratisch: Vier lange Holzbänke zwischen dürren Stämmen eines Eukalyptuswalds, darauf drei Dutzend Männer und Frauen, sitzend, schweigend, ihre Blicke gesenkt. Überlebende des Völkermords begegnen den Tätern. „Groupe de rapprochement“ – Annäherungsgruppe – nennt sich dieser Gesprächskreis auf dem zentralen Hügel der Kanyinya-Gemeinde. Huye Distrikt. Südliches Ruanda.

Dieudonné Munyankiko und sein Kollege Ignace Ndayahundwa besprechen sich kurz. Dann treten die jungen Männer vor und richten abwechselnd das Wort an die Versammelten. „Wir danken für euer Kommen, euren Mut“, sagt Munyankiko. „Wir wissen, dass manche euch dafür verachten und bedrohen.“ Ndayahundwa fährt fort: „Sagt ehrlich, was ihr denkt. Aber nennt keine Namen! Denkt daran, dass alle von uns Wunden erlitten haben. Auch die Mörder.“ Die beiden verteilen Stifte und Blöcke, ehe die Gruppen auseinandergehen.

Die Überlebenden hocken sich im Halbkreis um eine Frau mit Baseballkappe, die Schriftführerin. Sie notiert in Stichworten die Wortmeldungen, die später der Gegenseite vorgetragen werden:

„Außerhalb der Gesprächsgruppe ist keine offene Aussprache möglich – Angst.“

„Überlebende werden ausgegrenzt – Einsamkeit.“

„Verurteilte Täter zahlen nicht oder nur widerstrebend Entschädigungen – neuer Hass.“

„Immerhin reden wir wieder miteinander.“

Die Schriftführerin trägt zusammen, am Ende blickt sie auf die Liste: „Wenn wir das der Tätergruppe offen ins Gesicht sagen, wird das doch kaum zur Aussöhnung beitragen!“ „Warum nicht?“, entgegnet eine alte Frau, schließlich seien es doch gerade die ständigen Ausflüchte der Täter, die ein Gespräch unmöglich machten. „Immerhin reden wir wieder miteinander“, wirft ein junger Mann in die Runde. „Das ist doch schon mal was Gutes, oder?“ Pauline Mugirasoni seufzt. „Manche der Täter sprechen sogar von Reue“, sagt sie ohne aufzublicken. „Doch ihre Worte bedeuten nichts.“

Die 56-Jährige hält sich trotz ihrer Verbitterung an die Regeln. Keine Namen. Und doch weiß jeder in der Gruppe, wen sie meint: François Sezirahiga und Felicité Mushyaka. Die beiden sitzen außer Hör-, aber in Sichtweite. In der Häftlingsgruppe.

Kann man von einem Menschen erwarten, den Mördern seiner Frau, seines Mannes, seiner Kinder die Hand zu reichen? „Es ist fast unmenschlich schwer“, wird Dieudonné Munyankiko nach dem Gesprächskreis sagen. „Aber was wäre die Alternative?“

Der stämmige 34-Jährige erinnert sich noch allzu gut an eine Alternative. Mangelnde Bereitschaft, miteinander zu reden, hat sie im Frühjahr 1994 zur tödlichen Wirklichkeit werden lassen. Verwesungsgeruch wehte durch die Dörfer. Aufgedunsene Körper lagen in den Flüssen und Seen. Bis zu einer Million Tote – in kaum hundert Tagen. Noch immer gehen Hutu und Tutsi einander aus dem Weg. Den Überlebenden graut vor den Hutu-Gewalttätern, die nun nach und nach aus der Haft oder dem Exil zurückkehren. Die Heimkehrer wiederum fürchten Racheakte der Überlebenden.

Der Massenmord teilt die Geschichte des Landes in Davor und Danach

Miteinander reden, aufeinander zugehen – was sonst? Das war die Frage, die sich Dieudonné Munyankiko stellte, nachdem die Geschichte seines Landes durch den Massenmord in ein Davor und ein Danach geteilt wurde. Mit elf Mitstreitern rief er im Februar 2000 die „Association Modeste et Innocent“ ins Leben, kurz AMI – französisch für „Freund“. AMI organisiert seitdem den Wiederaufbau zerstörter Häuser, gibt Polizisten Kurse in Gewaltprävention, schult Freiwillige in der Betreuung von Traumatisierten, unterstützt Schülergruppen, in denen Hutu- und Tutsi-Kinder gemeinsam Theater spielen.

Und AMI versucht sich an der Quadratur des Kreises: Täter und Opfer miteinander ins Gespräch zu bringen. „Wir glauben, dass es möglich ist“, sagt Munyankiko, Sohn eines Hutu und einer Tutsi. Ruanda hat 1,1 Millionen Einwohner. Bei AMI sind sie zu zwölft. „Es wird nur in vielen kleinen Schritten passieren. Aber man kann sie gehen.“

Drüben, in der Tätergruppe, ergreift Felicité Mushyaka das Wort – eine grazile Frau von fast 50 Jahren. Sie trägt ein gelbes Kleid mit schwarzem Muster, darin die Worte Upendo na amani – Frieden und Liebe. Ihr Mann führte den Mob an, der 1994 Pauline Mugirasonis Schwiegervater ermordete. Sie hatten ihn aus seinem Versteck in der Bohnenplantage gezerrt und vergruben ihn bis zum Hals im Boden. Dann schlugen sie mit Hacken und Stöcken seinen Schädel ein.

Zur Rechten der gelb Gewandeten hockt François Sezirahiga, eine kleine, hagere Erscheinung in viel zu weitem Hemd und mit grell-grünen Plastiksandalen. Auch er war Teil des mordenden Mobs. „Mir tut leid, was geschehen ist“, gesteht er. „Das würde ich Pauline gern sagen. Aber ich schaffe es nicht.“ Er blickt zu mir. „Und was hilft es, wenn weiße Leute zu uns kommen? Die schreiben am Ende eh nur wieder, dass in diesem Land haufenweise Mörder herumlaufen!“ Mit beiden Armen umklammert er die Knie.

Als François Sezirahiga nach acht Jahren Haft auf den Hügel zurückkehrte, hatte Pauline Mugirasoni die Leute von AMI gebeten, ihn zum Gesprächskreis einzuladen. „Wir wollen ja wieder friedlich miteinander leben“, wird sie später sagen. „Wir müssen.“

Die Annäherung in den Gesprächskreisen verläuft in drei Schritten

Auch Mushyaka, die Frau des Täters, sagt, sie wünsche sich endlich Frieden. „Aber wie?“ Sie wird laut. „13 Jahre sitzt mein Mann nun schon im Gefängnis – und wofür?“ Sie habe ihre liebe Not, die Entschädigungszahlungen für ihren Mann aufzubringen, mehr als 37.000 Francs! Es sind umgerechnet gut 40 Euro. Für eine einfache Landarbeiterin wie sie ist das der Verdienst vieler Monate. „Und die Frau, die meinen Mann ins Gefängnis gebracht hat, grüßt nicht einmal zurück“, schreit sie mit einem Blick hinüber zu Pauline Mugirasoni. „Nehmt euch Zeit“, sagt Dieudonné Munyankiko ruhig. „Ihr könnt euch nur gegenseitig heilen.“

Die Annäherung in den Gesprächskreisen verläuft in drei Schritten. Zuerst sprechen die Teilnehmer mit ihresgleichen über das Erlebte und ihre Gefühle. Täter mit Tätern. Opfer mit Opfern. Im nächsten Schritt tauschen die Gruppen untereinander ihre Gesprächsprotokolle aus – sie sollen, mit der geliehenen Geduld des Papiers, die Lebenswelt der anderen verstehen lernen. Als Drittes folgt die direkte Aussprache. Beim Abschied bittet Munyankiko die Männer und Frauen, sich für den dritten Schritt breit zu machen.

„Durch dieses Tal kam der Genozid nach Butare“, sagt Munyankiko während der Heimfahrt. Die Stadt, Sitz der Nationaluniversität und kulturelles Zentrum des Landes, blieb von dem Massenmord knapp zwei Wochen länger verschont als der überwiegende Rest des Landes – bis zum 19. April 1994. An diesem Tag landete der kurz zuvor von den Hutu-Extremisten ins Amt gehievte Staatspräsident in Butare und rief die Hutu auf, auch hier „ihre Arbeit zu tun“.

Im Tal des Todes reiht sich ein Reisfeld an das andere. In den Feldern: Dutzende Männer in flamingofarbenen Schlafanzügen. „Keine Schlafanzüge“, erklärt Munyankiko. „Das ist die Kluft der Häftlinge von Butare, die in den Feldern arbeiten müssen.“ So helfen sie, ihre Kosten zu drücken. Noch immer sitzen 8000 von ihnen im Gefängnis der 100.000-Einwohner-Stadt ein. Es waren einmal mehr als 12.000, viele jahrelang ohne Anklage, ehe im Land Tausende Gacaca-Versammlungen eingesetzt wurden, dörfliche Laiengerichte. Sie waren der Versuch, der Häftlingsflut Herr zu werden und dennoch Gerechtigkeit walten zu lassen. Ein Versuch, der bei Millionen von Morden, Verstümmelungen, Plünderungen und Vergewaltigungen zum Scheitern verurteilt war. Bisweilen blieb den ehrenamtlichen Richtern wenig mehr, als Kläger oder Angeklagtem Glauben zu schenken.

Man muss auch auf die Täter zugehen

Ohne Gerechtigkeit kein Frieden. Ist das so? Dieudonné Munyankiko glaubt etwas anderes: „Wir können in Ruanda entweder versuchen, Gerechtigkeit herzustellen und alles Unrecht, das geschehen ist, zu ahnden. Oder wir ertragen die Ungerechtigkeiten. Und schaffen gemeinsam eine Zukunft.“

Man muss auch auf die Täter zugehen, sagt Munyankiko, ihnen eine Rolle und eine Zukunft aufzeigen. „Wir hier und ihr da – eine solche Ausgrenzung darf nie wieder Macht ergreifen!“, Munyankiko wird selten laut, so laut wie nun, und wenn, steht es ihm nicht. Trotz seiner kräftigen Statur. Trotz des festen Händedrucks. Er hat einen warmen, wachen Blick, der Zuversicht ausstrahlt. Sogar dann, wenn er über seine Wunden spricht. Die Familie seiner Mutter wurde von Hutu-Extremisten ausgelöscht. Als schließlich im Sommer 1994 die Tutsi-Rebellenarmee um den jetzigen Präsidenten Paul Kagame das Land eroberte, fiel ein Großteil der Verwandtschaft des Vaters. Er, damals 17, und seine Eltern überlebten in einem Versteck am Stadtrand von Butare. „Als Sohn einer Tutsi und eines Hutu ist es leichter für mich, von Versöhnung zu sprechen. Aber es macht die Moderation der Aussprachen auch schwierig, weil beide Seiten ihre Vorbehalte gegen mich haben. In gewisser Weise bin ich ein Niemand.“

Munyankiko fand sich nach dem Genozid zwischen allen Stühlen wieder. So lernte er, auf eigenen Beinen zu stehen. „Ich bin gläubig, ich bete zu Gott“, sagt er. „Doch ich habe eine freie Auffassung vom Glauben.“ Diese Offenheit spiegelt sich auch bei AMI wider. Die Organisation hat ihrer Versöhnungsarbeit einen Überbau aus christlicher Metaphysik, Tai-Chi-Meditation und sozialpädagogischen Konzepten gegeben, arrangiert um jenes Herzstück herum, das in Ruandas Landessprache Ubuntu heißt: Menschlichkeit.

Heute ist AMI eine staatlich anerkannte Nichtregierungsorganisation. Überwacht, aber nicht unterdrückt.

Einige Tage sind vergangen, als wieder „Annäherungsgruppe Kanyinya“ in Munyankikos Wochenplaner steht. Dieses Mal soll es zu Schritt drei kommen. Nach vielen kleinen ersten und zweiten Schritten.

Wieder sitzen sich Täter und Opfer gegenüber

Als Munyankikos Geländewagen die Hütte auf dem Hügel erreicht, hat sein Kollege Ignace Ndayahundwa bereits die vier Bänke in den Eukalyptuswald geschleppt. Wieder sitzen sich Täter und Opfer im Gesprächskreis gegenüber. Und schweigen. Ein langer Moment verstreicht, in dem sich Blicke streifen und wieder zu Boden sinken. Ndayahundwa greift nach den Notizen vom vorigen Treffen. Ein Hauptproblem, verliest er, sind nächtliche Steinewerfer: Immer wieder werden Tutsi aus dem Schlaf gerissen, weil ihre Häuser attackiert werden. Ein Älterer, feierlich in Jackett und hellgrauem Hut erschienen, sagt: „Das sind auswärtige Rumtreiber, die saufen und Drogen nehmen!“ „Genau“, pflichtet sein Nachbar bei. „Die wissen, dass der Verdacht sowieso auf uns Verurteilte fallen wird.“

Einer aus der Tätergruppe sagt, er habe zwölf Jahre im Gefängnis gesessen, unschuldig, und nun sei die Ehefrau weg. Andere werfen ihre Nöte in die Runde: übertriebene Entschädigungsforderungen, korrupte Justizbeamte. Munyankiko verspricht, einen Vertreter der Regionalregierung einzuladen.

Die Annäherung verharrt im Danach. Die Monate des Blutrauschs selbst bleiben unberührt. Das Unfassbare von einst scheint das Unaussprechbare von heute. Als sich die Sonne hinter die Hügel senkt, dankt Munyankiko den Teilnehmern. Und lädt zum nächsten Treffen.

Schweigend tragen die Männer und Frauen die Bänke zur Gemeindehütte. Da bricht es aus Pauline Mugirasoni hervor. Sie blickt zu François Sezirahiga, dann richtet sie das Wort an mich: „Sprechen Sie ruhig mit ihm! Nur zu! Fragen sie ihn, was er meiner Familie angetan hat!“

„Die Regierung sagte, wir sollen die Tutsi töten.“

Sezirahiga sieht flüchtig zu ihr hinüber. Seine Hände hat er in die Hosentaschen gegraben. „Was will sie denn?“, fragt er. Holt Luft. Seinen Worten weht eine Alkoholfahne hinterher. „Ich bin doch der Gesprächsgruppe beigetreten. Und irgendwann werde ich Pauline um Vergebung bitten.“

Wofür?

„Ich habe ihren Schwiegervater getötet.“

Kannten Sie ihn?

„Ja. Ich habe für ihn gearbeitet. Wir waren sogar miteinander befreundet.“

Warum haben Sie ihn dann getötet?

„Die Regierung sagte, wir sollen die Tutsi töten.“

Und Sie haben gehorcht?

„Der Gemeindevorsteher schickte uns los, eine ganze Gruppe.“

Hat Paulines Schwiegervater Sie in der Gruppe erkannt?

„Er hat mich gesehen. Er fragte mich: ,Du auch, mein Freund? Du kommst, um mich zu töten?‘“

Was haben Sie geantwortet?

„Ja.“

Sezirahiga verschränkt die Arme vor der schmächtigen Brust. Eigentlich, sagt er, habe er Paulines Schwiegervater gar nicht umgebracht, habe nur dabeigestanden, zugesehen habe er und sich ansonsten nur um das Plumpsklo gekümmert, in dem der Leichnam anschließend verschwinden sollte, andere hätten viel mehr Schuld zu tragen. Er blickt zu Pauline Mugirasoni. Sie lehnt regungslos am AMI-Geländewagen, mustert ihn von fern.

„Ja, ich habe den alten Mann getötet“, sagt François Sezirahiga nach einer Pause. „Meinen Freund. Aber ich schaffe es nicht, Pauline das ins Gesicht zu sagen. Ich bin noch nicht so weit.“ Er atmet Abendluft ein, vor Alkohol stechende Luft aus. „Ich habe Albträume. Ich habe keinen Seelenfrieden.“

Es gebe Menschen, sagt Pauline Mugirasoni, die denken, mit Mördern dürfe man kein Wort mehr wechseln. „Was für Ignoranten!“ Wie, fragt sie sich, sollten sie denn wieder Tür an Tür leben, hier auf ihren Hügeln, mit all dem Unausgesprochenen zwischen sich? Was, wenn der einzige Weg aus der Vergangenheit die Versöhnung ist? Pauline Mugirasoni möchte hoffen, dass François Sezirahiga und sie diesen Schritt eines Tages gehen werden. „Wir reden wieder miteinander, zumindest innerhalb der Gesprächskreise“, sagt sie. „Es ist ein Anfang.“

Erschienen in Cicero 12/2011.